Eigentlich hatte Jean-Baptiste Poquelin, 1622 in Paris geboren und ebenda 1673 verstorben, zwei solide Ausbildungen (als examinierter Jurist und Hoftapezierer), Theater hätte also nicht sein müssen. Er aber nannte sich Molière, stürmte die Bühne und reformierte sehr zum Ärger der Konkurrenz die Komödie. Ludwig XIV. schätzte und hielt seine schützende Hand über ihn, wenn er sich mal wieder Tout-Paris zum Feind gemacht hatte. Und das passierte ihm eigentlich ständig, denn die Charaktere, die er nicht nur schrieb, sondern auch auf der Bühne verkörperte, stellten ungeniert die Verlogenheit und die moralischen Defizite der Gesellschaft an den Pranger. Die Académie Française würdigte ihn erst 105 Jahre nach seinem Tod. Der Sockel seiner Büste trägt die Inschrift »Seinem Ruhm fehlte nichts – er fehlte dem unsern«.
Orgon ist nicht nur wohlhabend und ein angesehener Bürger, wichtiger noch, er ist ein gottesfürchtiger Mann. Als solcher ist er permanent von seinem religiösen Gewissen geplagt, denn die Annehmlichkeiten des guten Lebens, davon ist er überzeugt, füllen quasi automatisch das eigene Sündenregister. In dieser Annahme bestärkt ihn Tartuffe, ein Mann, der selbst allen weltlichen Versuchungen abgeschworen und in Orgons Haus Aufnahme gefunden hat. In Orgons Familie begegnet man Tartuffe mit Skepsis. Dass der heilige Mann versucht, Orgons Frau zu verführen, die geplante Hochzeit von Orgons Tochter hintertreibt, um sich selbst als Schwiegersohn zu etablieren, und den Besitz der Familienimmobilie erschleicht, lässt aus deren Sicht Tartuffes Heiligenschein doch sehr verblassen. Am Ende braucht es drastische Mittel, um Orgon vor Augen zu führen, dass er einem Scheinheiligen aufgesessen ist. Tartuffe ist ein genialer Betrüger. Wäre sein Plan aufgegangen: Haus, Bargeld, Ehefrau, Tochter, alles seins, Orgon wäre nichts geblieben. Dass Tartuffe sich im religiösen Gewande tarnt, brachte Molière den Vorwurf der Blasphemie und reichlich Ärger mit dem Klerus ein. Der König musste vermitteln, damit das Stück überhaupt gespielt werden durfte. Dabei ist es nicht die Religion, gegen die sich des Autors Spott richtet. Der zielt vielmehr auf eine Gesellschaft, die sich hinter scheinheiligen Konventionen versteckt und so Tartuffes Betrug erst möglich macht.
»Tartuffe« Trailer
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Pressestimmen
Die Macht, die der Heuchler entfacht »Temporeich und mit vollem Körper- und Mimikspiel gehen die Spieler*innen in ihren Rollen auf, reißen mit ihrem Gesang das begeisterte Publikum fast aus den Sesseln …Als von Berlepsch ungebremst auf die Knie fällt, stöhnen Zuschauer auf – sein charismatisch gespielter Tartuffe hat auch sie längst in den Bann gezogen … Modern wird der Abend zunächst durch das beeindruckende Bühnenbild von Valentina Pino Reyes … Anna Paula Muth spielt Valère mit angeklebtem Schnurrbart und feminin geschnittenem Anzug, bringt neben dessen Männlichkeit auch seine Unsicherheit auf die Bühne … Die Leichtigkeit in der Darbietung überwiegt die schwere des Stoffes.«
Lea Lang, Göttinger Tageblatt 18.3.2024
Genderlein im Neonschein »Die Inszenierung von Moritz Franz Beichl am Deutschen Theater Göttingen verzichtet dankenswerterweise auf diese naheliegende Interpretation des Textes und liefert stattdessen eine bunte und sehr stimmige Revue mit Neonlichtern, Crossdressing, Gesang und einem homoerotischen Subtext, der so ›sub‹ gar nicht ist ... Eine Freude ist es, wie das durchweg starke Ensemble mit dem Publikum interagiert ... Der Abend hält zahlreiche Szenen bereit, die mindestens ein Lächeln ins Gesicht zaubern, und dafür alleine lohnt es sich schon, die Inszenierung anzusehen. Für die Truppe gab es vom Publikum Standing Ovations.«
Simon Gottwald, Nachtkritik.de, 17.3.2024
Ein Hoch der Verführung »Diesen Abend sollten sich Theaterliebhaber auf keinen Fall entgehen lassen … Eine herrlich burleske Klamotte mit Tiefgang hat das Deutsche Theater Göttingen mit Molières ›Tartuffe‹ vorgelegt … Der Erfolg war eindeutig: Es gab langen Applaus mit Standing Ovations … Beeindruckend ist der Umgang mit Sprache: Den Schauspielern gelingt es, Molières Verse wie Alltagssprache rüberzubringen.«
Ute Lawrenz, HNA 18.3.2024
Kritik in kunterbunter Verpackung »Mit der Komödie »Tartuffe« ist Moritz Franz Beichl wieder einmal die zeitgenössische Umsetzung eines Klassikers wunderbar gelungen. Er versteht es sehr gut in einem kreativen Team (Astrid Klein – Kostüme, Valentino Pino Reyes – Bühne, Fabian Kuss – Musik) die Vielfältigkeit der modernen Adaption mit der Ursprungsdramatik zu vereinen und dabei nicht die originäre Intention des Stückes zu überlagern … Die farbenprächtige Exzentrik der Kostüme und die poppigen Neonlichter des Bühnenbildes mit ihren ›diversen‹ Andeutungen bieten einiges zum Schmunzeln. Die Schauspielenden überzeugen mit ihrer Spielfreude und Überdramatik, die die Komik des Dargebotenen unterstreicht. Ein absolutes Highlight ist Anna Paula Muth in der Rolle des Valère. Es wird insgesamt viel gelacht während der Vorstellung; aber sie hat mit ihrem überzeugenden Spiel des ungelenken Möchtegern-Machos ganz sicher die meisten Lacher auf ihrer Seite.«
Ingrid Rosine Floerke, Scharfer Blick/Kritiker*innenclub 16.3.2024