Fenia Xenopoulou ist ehrgeizig, doch sie steckt in der von den Kolleg*innen belächelten Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission fest, ein Ressort ohne Budget, ohne Gewicht in der Kommission, ohne Einfluss und Macht. Zum Geburtstag der Kommission sieht sie die Möglichkeit, das Image aufzupolieren, indem sie eine glanzvolle Jubiläumsfeier auf die Beine stellt, die ihr endlich die gewünschte Aufmerksamkeit bringt. Der Referent Martin Susman hat für das »Big Jubilee Project« den Einfall, die letzten Überlebenden der Konzentrationslager ins Zentrum einer Kampagne zu stellen, die an den gemeinsamen Ursprung der EU – die Gräuel der Konzentrationslager dürften sich niemals wiederholen – erinnert. Voller Eifer stürzen sich alle auf das neue Projekt, doch sobald sich die Mühlen der Bürokratie in Gang setzen, rücken Ränkespiele, nationale Interessen und die Inkompetenz der Beamten in den Mittelpunkt des Geschehens. Robert Menasse zeichnet in seinem absurden und leichtfüßigen Roman »Die Hauptstadt« verschiedene Lebensgeschichten nach, die alle in Brüssel in der Beobachtung eines entlaufenen Schweins zusammenkommen.
Pressestimmen
Das Thema Europa – mit Wiener Schmäh erzählt »Katharina Müller sorgt mit ihrer Stimme für abwechslungsreiche Gesangseinlagen … Wenn Susmann (Bastian Dulisch) mit seinem Bruder (Christoph Türkay) im österreichischen Dialekt plaudert, lacht das Publikum herzlich. Auch genügend andere Szenen lassen die Zuschauer schmunzeln. Trotzdem wird die Ernsthaftigkeit des Themas deutlich: Der Zusammenhalt in Europa ist fragil … Dem Regisseur ist es gelungen, den Bezug zu der derzeitigen Krise in die Produktion einzubauen.«
Anja Semonjek, Göttinger Tageblatt 13.7.2020
Slapstick, Schwein, Spardoktrin »Gaby Dey, Bastian Dulisch, Felicitas Madl, Katharina Müller, Judith Strößenreuter, Christoph Türkay und Gerd Zinck stürzen sich in vielen Rollen mit Wonne in die Szenenfolge, wechseln geschmeidig zwischen Vortragsduktus im Büro und grandiosem Slapstick als hochbetagte Altenheimbewohner und sorgen für einiges Gelächter im Saal … Inmitten all der live geschmetterten Punk-Opernarien und vieler Gags … gelingt es die ernsthaften und klugen Gedanken zum Zusammenhalt eines Europas der Bürger gut zu vermitteln.«
Bettina Fraschke, HNA 13.7.2020
Schweinereien in Brüssel »Das Ensemble spielt mit Abstand, was allerdings im Kontext der Handlung durchaus nicht fehl am Platz ist, und die ersichtliche Spielfreude nicht schmälert. Auch dem Text ist seine Lust an Skurrilität, der Spaß an der Überzeichnung und den – von Ritter gerne übernommenen – eigenartig metaphorischen Bildern anzumerken. Alles das verkettet sich zu einer Inszenierung, die sich vor allem in der Lust am Spiel, in der Bewegung und der Übertreibung gefällt.«
Jan Fischer, nachtkritik.de 10.7.2020
Atmosphäre einer veränderten Zeit »Für Kreativteam und Ensemble heißt es in Corona-Zeiten: Man muss aus der Not eine Tugend machen. Und tatsächlich wird aus den Abständen einiges rausgeholt. Man nutzt den Bühnenraum intelligent, macht körperliche Interaktion auch auf Distanz klar und streut den einen oder anderen aktuellen Gag ein. Der Kern des Romans bleibt erhalten, die Adaption gerät inhaltlich dicht und doch niemals langweilig … Das sehr variable Bühnenbild von Alexander Wolf bietet leichtfüßige Szenenwechsel ohne viel Aufhebens, dafür mit einem bildstarken Bühnenhintergrund … Das Stück changiert zwischen intelligenten Dialogen mit Erzähleranteilen, die der Handlung Fortgang und Hintergrund verleihen, und lautstarken Effekten hin und her. Die Vielheit der Sprachen und Dialekte in einer Stadt wie Brüssel wird lustvoll ausgeschlachtet, sodass allein schon manch eleganter Einsatz des Wiener Schmähs ausreicht, um einem ein Lächeln auf’s Gesicht zu zaubern … Nähe auf Distanz darstellen, schnelle und häufige Figurenwechsel, Gesang, verschiedene Sprachen: Die Inszenierung braucht ein tatkräftiges Ensemble. Und das spielt in Göttingen wieder einmal auf extrem hohem Niveau … Die spielfreudigsten Auftritte des Abends gehören aber Christoph Türkay, der als Florian Susman herrlich vor sich hin wienert, als Antonio Pintio den pointiert-klischeehaften italienischen Ton angibt und als Tattergreis auch noch den witzigsten Part der Vorstellung gelungen gestaltet.«
Marcel Lorenz, unddasleben.wordpress.com 11.7.2020
Die Suche nach der Europavision »Eine gelungene Aufführung trotz zahlreicher Corona-bedingter Einschränkungen, die originell und mit Pfiff bühnengerecht umgesetzt werden … Die Schauspieler zeigen viel Spiellust und karikieren – scheinbar mit großem Ernst – die unterschiedlichen Charaktere und Spielzüge bis in Skurrile … der Eindruck der Inszenierung schwankt zwischen aktuellem Zeitbild, Persiflage, Kabarett und politischem Programm – zur Freude der Zuschauer.«
Horst Dichanz, O-Ton 14.7.2020
Ein Plädoyer für Europa »Die Schauspieler schaffen es mühelos zwischen bis zu sieben verschiedenen Rollen zu tauschen. Besonders positiv sticht dabei Christoph Türkay hervor – nicht zuletzt dank einer Szene, in der er als alter Mann sicherlich über fünf Minuten hinweg über die Bühne trippelt, um unter anderem ein verlorenes Tuch zu holen. Souverän begleitet wird das Stück durch die Band »The Black Stripes« (Michael Frei und Pauline Jung) und zwischenzeitlich den Gesang von Katharina Müller (deren wunderbare Stimme vor allem in den ruhigeren Liedern zum Tragen kommt) … Deutlich wird das dem Stück zugrundeliegende Plädoyer für Europa, ein Europa der tiefgreifenderen Integration und Verflechtung der Nationalstaaten, für welches Ausschwitz als Mahnmal eine zentrale Position einnimmt.« 0
Maren Wöbbeking, Scharfer Blick/Kritikerclub 14.7.202
Göttingen ist Hauptstadt »Die stilistisch gelungene Inszenierung verknüpft pointierten Dialogen mit von den Charakteren ausgesprochenen Gedankeneinschüben sowie szenischen Beschreibungen; so entstehen durchaus witzige Momente und mehr als einmal lacht der Saal … Unsichtbare Hände bewegen die Mauern um die Schauspieler herum, die wie aus dem Nichts auftauchen und verschwinden. Die schauspielerischen Einzelleistungen sind auf gewohnt hohem Niveau; körperlich und witzig. Ein ganz besonderer Moment war noch der Schlussapplaus, wenn das Licht das letzte Mal erlischt. Wer jemals den Premierenapplaus in einem vollen Saal des Deutschen Theater Göttingen gehört hat, wird die akustische Leere wahrnehmen, welche die fehlenden Zuschauer hinterlassen und die auch der intensive Applaus des größtenteils angetanen Publikums nicht füllen kann.«
Lisa Eisenkrätzer, Scharfer Blick/Kritikerclub 16.7.2020