Theater einBLICK

08.04.2025

Zwischen Freundschaft und Verrat

Franziska Sordon hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theaters Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Produktion »Die ersten hundert Tage« besucht.
Die ersten hundert Tage
Zum Stück

Schon mit der ersten Szene entfaltet sich eine Atmosphäre der Unruhe: Wir Zuschauer*innen blicken auf eine karge, fast zu schlicht gehaltene Theaterbühne, die eine Tankstelle zeigen soll. Doch nichts im Bühnenbild erinnert an eine Tankstelle – stattdessen sehen wir niedrige Betonmauern, die die Grenze zwischen Deutschland und Tschechien markieren und an einen Ort des Wartens erinnern. Eine dystopische Zukunft. Ein Wiedersehen steht bevor in dieser Uraufführung am Deutschen Theater Göttingen. Roya, Lou und Marin haben ihn einmal ihren Freund genannt – Silvio, ihren ehemaligen Kommilitonen. Doch das war, bevor sie als junge Erwachsene nach Tschechien ins Exil gingen, bevor in Deutschland eine rechtsradikale Regierung an die Macht kam. Silvio hingegen ist geblieben, hat Karriere gemacht, eine Familie gegründet. Und nun hat er seine drei einst besten Freund*innen für ein geheimes Treffen an die Grenze bestellt.

Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers inszeniert mit beklemmender Klarheit. Sam Bekliks Bühne und Kostüme verstärken diese Atmosphäre: Die Tankstelle existiert nur in unserer Vorstellung. Das Bühnenbild ist auf ein Minimum reduziert – graue Betonmauern, schwarzer Boden. Die Scheinwerfer werfen ein kaltes, unbarmherziges Licht auf das Geschehen. Keine Ablenkung, kein Ornament – stattdessen stehen die Darsteller*innen und ihre Konflikte im Zentrum.

Es sind vor allem Moritz Schulzes nuanciertes Spiel und seine verletzliche Intensität, die dem Stück seine Dringlichkeit verleihen. Wenn er als Marin mit gebrochener Stimme sagt: »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wo ich hin soll«, ist das ein Moment, der ins Mark trifft. Schulze zeigt Marin als einen Mann, der ein System boykottiert, das seinen engsten Freund*innen schaden will – der erfolgreichen, systemkritischen Journalistin Roya und der nicht-binären Lou. Doch er verkörpert auch Marins Unsicherheit und Loyalität, sein Festhalten an der alten Freundschaft zu Silvio. Den gibt Christoph Türkay mit fester Stimme eine erschütternde Präsenz. Die Figur Lou hingegen wirkt etwas blass – das Spiel mutet eher künstlich an, die Bewegungen erscheinen übertrieben, fast mechanisch.

Besonders stark sind die Wortgefechte zwischen Roya und Silvio. Roya, überzeugend gespielt von Mariann Yar, war einst Journalistin in Deutschland, wurde in den ersten hundert Tagen der neuen Regierung bedroht und musste fliehen. Nun konfrontiert sie Silvio mit seiner Bequemlichkeit, mit seinem Verrat an der Freundschaft. »Für einen Körper wie deinen ist Politik selten gefährlich«, zischt sie mit eiskalter Präzision – eine Anklage, ein Urteilsspruch. Diese Worte hallen lange nach.

Dann taucht ein Grenzpolizist auf, gespielt von Florian Eppinger. In diesem Moment wird klar: Silvio ist längst weiter von seinen Freunden entfernt, als er selbst wahrhaben will. Der Staat, dem er sich nicht ganz verschrieben, aber doch angepasst hat, ist ihm gefolgt. Es geht nicht mehr nur um eine alte Freundschaft – es geht um Leben und Tod. Die Atmosphäre verdichtet sich, die Worte werden härter. Nach dem Motto: Man kennt sich erst, wenn man weiß, was man wählt.

Diese Inszenierung verzichtet auf große Effekte und bleibt ganz bei den Figuren. Die Reduktion schafft eine Konzentration auf das Wesentliche, und nur in einigen Momenten lässt die Inszenierung an Wucht vermissen – eine größere Wucht, einen Moment, der tiefer trifft. So bleibt am Ende eine gewisse Distanz zum Geschehen.

»Die ersten hundert Tage« zeigt, wie schnell politische Realitäten Freundschaften zerstören können, und stellt die drängende Frage: Was bleibt, wenn das Band der gemeinsam erlebten Vergangenheit reißt?