Theater einBLICK

11.03.2025

Von Manipulation und dem Preis der Anpassung

Franziska Sordon hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theaters Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Produktion »Das deutsche Haus« besucht.
Das deutsche Haus
Zum Stück

Schon mit dem ersten Bild im Theatersaal entfaltet sich eine besondere Atmosphäre: Ein junger Mann hetzt mit Ruck- und Schlafsack durch die Publikumsreihen, sein Blick huscht unruhig suchend über die Gesichter schick gekleideter Theaterbesucher*innen, seine Stimme schwankt zwischen Hoffnung und Aufgewühltheit. Es ist Lukas, ein Student, gespielt von Christoph Türkay. Er sucht ein Zimmer. Eine Unterkunft für sein Studium, für seine Zukunft. Köpfe drehen sich nach ihm um. Ein paar der Zuschauer*innen weichen ihm aus, blicken weg, peinlich berührt durch die unvermutete Konfrontation mit einem Bittsteller. Es ist ein fulminanter Einstieg in die Inszenierung von »Das deutsche Haus« am Deutschen Theater Göttingen, die den Theaterraum auf intelligente Weise aufbricht und uns mitten ins Geschehen hineinzieht. Eine Zuschauerin hinter mir gibt Lukas den Tipp, »es mal bei Familie Ruch zu versuchen«. Den Bäcker*innen. Die hätten sicher Platz. Lukas scheint für jeden Tipp dankbar und stolpert Richtung Bühne.

Das imposante Bühnenbild für diese Uraufführung, detailverliebt von Thomas Rump und Nathalie Noël entworfen, spiegelt die prunkvolle Architektur des Theatersaals wider: goldene Verzierungen, Kronleuchter, schwere rote Samtvorhänge. Alles erweckt den Anschein, als würde sich die Bühne selbst in den Zuschauerraum hinein ausdehnen. Vermutlich eine Anspielung darauf, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität in dieser Inszenierung verschwimmen werden.

Judith Strößenreuter, Andrea Strube, Daniel Mühe und Gabriel von Berlepsch brillieren in ihren Rollen als dominante und mysteriöse Bewohner des deutschen Hauses. Einer Studentenverbindung, die im Zentrum der Handlung steht. Ihre überlegene, teils unheimliche Präsenz lässt einen gelegentlich erschaudern, teilweise herzlich boshaft lachen. Doch niemand fesselt so sehr mit seinem Schauspiel wie Christoph Türkay. Mit atemberaubender Intensität verkörpert er den jungen Studenten Lukas, der voller Enthusiasmus sein Studium in der neuen Stadt, mit den neuen Mitbewohnern beginnt und mit jeder Szene tiefer in die Mechanismen eines Systems gerät, das ihm fremd ist. Seine Stimme: teils leise und unsicher, dann wiederum bebend. Seine Körperhaltung spiegelt das Schwanken zwischen erzwungener Anpassung und zaghafter Gegenwehr wider. Eine Leistung, die in Erinnerung bleibt.

Während Lukas immer tiefer in die Welt der Studentenverbindung hineingezogen wird, versucht seine Freundin, gespielt von Tara Helena Weiß, vergeblich, ihn aus den zunehmend heimtückischen Fängen seiner Mitbewohner zu befreien. Ihre verzweifelten Appelle, ihre eindringlichen Warnungen verhallen ungehört. Die Tragikomik ihrer Ohnmacht verstärkt die beklemmende Atmosphäre, zeigt, wie schwer es ist, jemanden aus einer ideologischen Umklammerung zu lösen.

Dann: ein Plot Twist, der das Publikum den Atem anhalten lässt. Die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung: Ein geheimnisvoller Chirurgensaal taucht hinter den bisher stets verschlossenen Türen des Verbindungshauses auf, von kühlem blauen Neonlicht durchflutet. Hier werden Gehirne ausgetauscht – eine erschreckende Metapher für die Manipulation und Indoktrination durch rechtes Gedankengut. Während sich auch Lukas unfreiwillig diesem Prozess unterziehen muss, wächst die Spannung im Publikum. Die Szenen im Operationssaal erinnern an einen Horrorfilm – die Meisterleistung der Inszenierung von Philipp Löhle fesselt die Zuschauer*innen in ihren Sitzen, wie es Theater selten schafft!

Die chirurgische Präzision, mit der die Inszenierung hier die schleichende Unterwanderung demokratischer Werte darstellt, ist von erschreckender Aktualität, auch oder gerade wenn die Darstellung gegen Ende in ihrer Zuspitzung kontrovers diskutiert werden kann.

Am Ende bleiben wir alle überwältigt zurück und verlassen das Theater mit Fragen, die lange nachhallen. »Das deutsche Haus« am Deutschen Theater Göttingen ist ein Ereignis, das man nicht verpassen sollte.

Eine Inszenierung, die klug, intensiv und erschreckend gegenwärtig ist – und die zeigt, wie dünn die Wände sind zwischen gestern und heute, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wirklichkeit und Fiktion.