Theater einBLICK

04.03.2025

Der eine Ton des Lebens

Felicitas Klingler hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theaters Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Produktion »Nach dem Leben (After Life)« besucht.
Nach dem Leben (After Life)
Zum Stück

Die Frage, was nach dem Tod passiert, ist urmenschlich. Das Stück »Nach dem Leben« hält dazu eine charmante Idee bereit: In einer Zwischenwelt können Menschen ihr Leben für eine Woche Revue passieren lassen. Am Ende sollen sie eine Erinnerung ausgewählt haben, mit der sie in die Unendlichkeit gehen. Mitarbeiter*innen eines Unternehmens sind in dieser Zeit für die Betreuung der Menschen und die Reinszenierung der Erinnerungen am Schluss verantwortlich.

Manche Gäste haben sofort eine passende Erinnerung parat. Etwa die erste Flugstunde oder ein verheißungsvolles Date in einem verschneiten Hotel. Dabei spielen Fakten keine Rolle. Die Vergangenheit lässt sich angenehmer machen als sie wirklich war. Damit greift das Stück eine wichtige Erkenntnis auf: Erinnerungen sind subjektiv und manipulierbar. Sie können von niemandem genommen werden, weil sie selbst gemacht sind. Sie sind »das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.«

Doch die ›richtige‹ Erinnerung zu finden, fällt nicht allen leicht. Dies zeigt das Stück mit viel Humor: Der Hochzeitstag war beispielsweise eine Katastrophe und die Überraschungsreise hatte nicht den erhofften Effekt. Unschlüssig steht ein Herr vor den 71 Videokassetten seiner Lebensjahre und stellt fest: »Ich brauche mal eine Pause von mir.«

Und dann gibt es noch die, die sich weigern, eine Erinnerung auszuwählen, weil es keine guten Erinnerungen gibt oder sie noch am Leben festhalten. Sie sind die Mitarbeiter*innen, die den anderen den Abschied ermöglichen. Von Woche zu Woche sind sie erneut bemüht und immer wieder mit gleichen Geschichten konfrontiert. Das wird durch Anfang und Schluss des Stücks gekonnt versinnbildlicht. Es beginnt mit derselben Szene wie es aufhört.

Das Stück lebt aber nicht nur von Witz und Klugheit, sondern auch von der Inszenierung. Das Bühnenbild ist mit dunklen und gedeckten Farben ausgestaltet. Das Aufrufen der Gäste mit Nummern, die Beratung an schalterähnlichen Tischen und das Klappbett erinnern an ein Bahnhofsmilieu. Es vermittelt damit treffend Abschiedsstimmung. Ganz im Kontrast dazu stehen die Inszenierungen der Erinnerungen: Hier werden leuchtende Farben und schöne, großformatige Bilder eingesetzt. Die Wucht der Glücksgefühle wird für die Zuschauenden damit deutlich spürbar gemacht. Durch die Verwendung von Schreibmaschine und Videokassetten werden auch die Zuschauenden in vergangene Zeiten versetzt. So wird auf zwei Ebenen mit Erinnerungen gespielt.

Die durchgehende musikalische Begleitung des Stücks mit einem einzigen Tubaspieler passt perfekt. Es geht um die Entscheidung für das Eine, das Wesentliche. Den einen Ton des Lebens. Trotzdem vordergründig Eindeutigkeit verlangt wird, macht das Stück hintergründig Vieldeutigkeit auf. Es fallen irritierende Sätze wie »Man lebt nur zweimal: einmal in der Wirklichkeit und einmal in der Realität!« Handelt es sich hierbei um eine Anspielung darauf, dass es einen Unterschied zwischen dem Erlebten und dem Erinnerten gibt?

Insgesamt ist man als Zuschauende hin- und hergerissen zwischen den Fragen: »Wer bin ich?« und »Wer möchte ich eigentlich sein?« Es tut gut, sich diese Fragen zu stellen. Das Stück, die Inszenierung und die Leistung der Schauspieler*innen geben dazu wunderbare Impulse.