Das Stück »Ajax« von Thomas Freyer verbindet auf eindrucksvolle Weise eine zeitgenössische Erzählung mit Motiven aus der griechischen Mythologie. Anfangs verlaufen die beiden Erzählstränge nebeneinander: Die moderne Geschichte erzählt vom Zerfall einer typisch deutschen Kleinfamilie, ausgelöst durch den Vater Michael (Bastian Dulisch), der zunehmend in Verschwörungstheorien abdriftet. Parallel dazu entwickelt sich der antike Strang um den Kriegshelden Ajax, der sich mehr und mehr in Gewaltfantasien verliert. Was zunächst wie ein wahnhaftes, beinahe schizophrenes Verhalten erscheint, entpuppt sich als Ausdruck (selbst-) zerstörerischer toxischer Männlichkeitsbilder. Besonders ist, dass Charlotte Wollrad den Geist von Ajax spielt, die Figur Ajax im Laufe des Stückes aber von Bastian Dulisch übernommen wird, der damit in einer Doppelrolle als Vater sowie Ajax spielt. Höhepunkt des Rollenwechsels ist eine beeindruckende Szene, in der er Ajax Selbstmord mit erschreckender Eindringlichkeit darstellt.
Die Leidtragenden sind die beiden Söhne – Lou von Gündell als Eurysakes und Paul Trempnau als Jonathan – sowie die Ehefrauen – Marina Lara Poltmann als Tekmessa und Judith Strößenreuter als Mutter Christiane. Während die Söhne jeweils unterschiedlich mit ihren männlichen Rollenvorbildern ringen, emanzipieren sich die Frauen von ihren Ehemännern. Der Monolog von Strößenreuter, in dem sie ihre alte traditionelle Rolle als Ehefrau verflucht, geht dabei besonders unter die Haut.
Daniel Roskamps Bühnenbild unterstreicht die Themen des Stücks mit imposanten Mitteln: Großflächige Gemälde der Schlacht um Troja, Leinwandprojektionen des skizzierten Familienhauses, filmische Elemente sowie große Holzteile eines vom Vater errichteten Bunkers – all dies macht die zerstörerische Kraft patriarchaler Machtstrukturen auf beklemmende Weise erfahrbar.
Im Kontrast zur Wucht dieser Bilder entfaltet die Inszenierung aber auch eine erstaunliche Liebe zum Detail – kleine, präzise gesetzte Zeichen, die das Theatererlebnis bereichern: der Wechsel des Schuhwerks vom Birkenstock-Schlappen zum Schnürstiefel, als der Vater sich auf den „Krieg“ vorbereitet, und zurück zur Hausschuh-Gestalt, als er reumütig zu seiner Frau zurückkehrt. Die roten Wollfäden, in denen er sich buchstäblich verstrickt – ein starkes Symbol für seine geistige Verwirrung und das Gefangensein in Verschwörungserzählungen. Der Kastenkuchen, in den die Mutter verzweifelt beißt – Ausdruck von Ohnmacht und Einsamkeit. Und schließlich das kleine, rote Stoffpferd, das der Vater bei seiner Rückkehr in den Händen hält – ein augenzwinkernder, aber unheilvoller Verweis auf das trojanische Pferd: Täuschung, Tarnung, der letzte Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen?
Regisseur Gustav Rueb beweist hier viel Feingefühl. Gerade die Balance zwischen kraftvoller Bildsprache und feinsinniger Symbolik macht »Ajax« zu einer tiefgreifenden, eindrücklichen Inszenierung, die nachwirkt – im Kopf und im Bauch.
Felicitas Klingler, Scharfer Blick / Kritiker*innenclub 15. April 2025