Ins Netz gegangen 21.9.2024

Törless

nach dem Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törless« von Robert Musil

Bühnenfassung von Thomas Birkmeir

Törless Lou von Gündell / Beineberg Stella Maria Köb / Reiting Daniel Mühe / Basini Leonard Wilhelm

 

Regie und Sound Janis Knorr / Bühne Birgit Leitzinger / Kostüme Ariella Karatolou / Dramaturgie Stephanie Wedekind / Regieassistenz Katja Hagedorn, Justin-Silvan Middeke / Soufflage Natasha Pandazieva / Inspizienz Bénédicte Gourrin

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Assistent der Technischen Leitung Henryk Streege / Technische Einrichtung Marco Wendt / Beleuchtung Markus Piccio / Ton- und Videotechnik Julian Wedekind (Leitung), Mathis Albrecht (Einrichtung), Bernd Schumann (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung), Johannes Frei (Einrichtung) / Maske Helga Reimann (Leitung), Johanna Pfitzner (Einrichtung), Frauke Schrader (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal Eike Hansen / Schlosserei Robin Senger / Dekoration Regina Nause, Axel Ristau / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer

ca. 1 Stunde, 30 Minuten

keine Pause

 

Aufführungsrechte

Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

 

Probenfotos Isabel Winarsch

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

Einige Gedanken zu »Törless«

»Ein ewiges Warten auf etwas« (Im Konvikt zu W.)

 

»Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich. Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen. Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen.« (Berlin, Suhrkamp Verlag, 2013)

So beginnt der Debütroman von Robert Musil, den er 1906 mit 26 Jahren veröffentlichte. Musil beschreibt hier die Bahnstation des Ortes, in dem sich das Konvikt zu W. befindet, ein Internat, in dem die Kinder der »besten Familien des Landes« ihre Ausbildung erhielten, um nach Verlassen des Instituts die Hochschule zu besuchen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten. Es galt als besondere Empfehlung in den Kreisen der »guten Gesellschaft«, dort die schulische Ausbildung genossen zu haben. Das Leben im Konvikt erscheint den Heranwachsenden aber als langweilig, uninteressant und lähmend. Für Törless ist es ein trister Ort der Leere, ohne Sinn, »ein ewiges Warten auf etwas, von dem man nichts anderes weiß, als daß man darauf wartet.« So heißt es an späterer Stelle weiter: »Schritt für Schritt trat er in die Spuren, die soeben erst vom Fuße des Vordermanns in dem Staube aufklafften, – und so fühlte er es: als ob es so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung … Jetzt schon klang ihm das Glockenzeichen in den Ohren, … das unwiderruflich das Ende des Tages bestimmte. Er erlebte ja nichts, und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit dahin … Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nichts mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot.«

»Es war eine Welt für sich, dieses Dunkel« (Die Figur Törless)

 

Die Figur Törless hat eine besonders empfindsame, hochsensible Natur, die nicht so recht in das harte Leben des Instituts zu passen scheint: Neben dem ästhetisch-intellektuell interessierten, nach Erkenntnis strebenden Teil ihres Charakters, zeigt sich auch immer wieder eine leidenschaftliche, erotisch-triebhafte Natur. Besonders die Einsamkeit und Dunkelheit üben einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus: »Es war eine Welt für sich, dieses Dunkel. Wie ein Schwarm schwarzer Feinde war es über die Erde gekommen und hatte die Menschen erschlagen oder vertrieben oder was immer getan, das jede Spur von ihnen auslöschte … Er war gewöhnt, sich dann die Menschen wegzudenken. Die Welt erschien ihm danach wie ein leeres, finsteres Haus.«

Ein Vorfall im Konvikt erweckt das Interesse von Törless: Reiting und Beineberg erwischen ihren Mitschüler Basini dabei, wie er aus finanzieller Not Geld stiehlt. Doch anstatt dieses Verbrechen anzuzeigen, beschließen sie fortan Basini als Versuchsobjekt zu missbrauchen. Sie erpressen, demütigen und misshandeln ihn auf unterschiedlichste Art.

Die Figur Törless scheint anfänglich vom brutalen Verhalten Reitings und Beinebergs abgestoßen zu sein. Sie schaut nur zu und versucht zu begreifen, warum die Dinge geschehen. Sie will wissen, ob der Diebstahl und die Erniedrigungen Basinis Selbstbild zerstört haben und er dadurch ein anderer geworden sei: »Ging da nicht durch dein ganzes Wesen ein Riß? Ein Schreck, – unbestimmt, – als ob sich eben etwas Unsagbares in dir vollzogen hätte?«

»Einen Menschen ganz in seiner Hand zu haben« (Die Figuren Reiting, Beineberg und Basini)

 

Forciert wird das Geschehen von den Figuren Reiting und Beineberg. Sie denken in Kategorien von »Herr und Knecht«. Sie sehen die Klasse als »Staat«, in dem die einen »führen« und die anderen »folgen«, die einen »befehlen« und die anderen »gehorchen«. Für beide hat es einen besonderen Wert, »einen Menschen ganz in seiner Hand zu haben und sich üben zu können«. Der rationale Reiting will intrigieren und herrschen, er glaubt an das Recht des Stärkeren. »Ich benutze, was mir nutzt … das ist die Siegerstraße.« Er hat zudem Allmachtfantasien von noch viel größeren Experimenten, von Massenbewegungen.

Die Figur Beineberg will später nach Indien gehen, sie glaubt an indische Heilige und die Weltseele, an Blutopfer und mystische Rituale, die nur dem einen Zweck dienen, die eigenen Gefühle abzutöten und sich unempfindlich zu machen. Hinzu kommen menschenverachtende Fantasien: »Basini zu quälen, – ist gut. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, dass das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, – eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit.« Ihr Opfer wird Basini. Seine Geldnöte, die ihn zum Diebstahl treiben, scheinen daher zu rühren, dass es ihm besonders daran gelegen ist, als Genussmensch zu leben und wahrgenommen zu werden. Er besucht die Prostituierte Božena, trinkt gerne Wein und prahlt mit angeblichen Liebesabenteuern.

Die unterschiedlichen Weltanschauungen der anderen scheinen Törless in ihren Bann zu ziehen und so lässt die Figur sich sukzessive davon verführen und in das Geschehen hineinziehen. Von den Lehrkräften unbemerkt entsteht eine Parallelwelt voller Geheimnisse. Das zunächst spielerische Ausprobieren von Machtmechanismen eskaliert und schlägt in missbräuchliches Verhalten um – in körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt.

»Darum ist er mir genauso widerwärtig wie seine Peiniger«

 

Der Erkenntnisgewinn von Törless aus dem Geschehenen formuliert sich dann am Ende folgendermaßen: »Basini, Beineberg hat Recht gehabt. Man kann wirklich viel lernen von dir. Zum Beispiel, daß man mit dem Denken allein nicht auskommt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Mensch sich derart demütigen läßt – jetzt aber weiß ich es und darum bist du mir genauso widerwärtig wie deine Peiniger.« Das Geschehene hat anscheinend nichts in Törless ausgelöst – sei es auch nur Scham, Schuldbewusstsein oder ein moralisches Empfinden darüber, was Schlimmes geschehen ist. Das Nicht-Handeln von Törless ist also weder von der Empörung über die Folterer noch vom Mitleid für Basini bestimmt, sondern allein von der Faszination für die Konfusionserlebnisse und der Suche nach Erkenntnis. Törless hätte, bei veränderten Umständen, genauso zum Opfer werden können wie Basini zum Täter; ihre Positionen sind invertierbar. Diese verstörende Botschaft macht Musils »Törless« zeitlos aktuell.

Das Internat als erzieherische Keimzelle

 

Doch wie wird man zum Opfer und wie zum Täter? Basini ist der Meinung, dass es ebenso Törless hätte treffen können: »Wenn du in meiner Situation wärst, würdest du geradeso handeln.« Reitings Gedanken gehen noch weiter, denn »am Schwachen erweist sich die Stärke. Der ganze Rest ist Mitläufertum… Ein riesiger Misthaufen. Den mußt du nur auf deine Seite schaufeln. Es sind Menschen wie du, Törleß. Menschen, die nichts verändern! Menschen, die zuschauen.« Ist also die Figur Törless eine Mitläuferin und macht sich durch ihr Nicht-Eingreifen zur Mittäterin? Das alles sind Fragen, die sowohl im Roman als auch in der Bühnenfassung aufgeworfen werden.

Wenn man das Geschehen in diesem Internat nun als erzieherische Keimzelle begreift und als Schablone auf unsere gesellschaftlichen Strukturen überträgt, sind es nicht demokratiegefährdende Tendenzen, die hier eingeübt werden? Verweist es dann nicht eindeutig auf Machtmissbrauch, Gewaltherrschaft und Faschismus? Musil selbst schrieb wenige Tage vor seinem Tod am 5. April 1942 in einem Brief: »Vom Törleß dagegen hat ein kluger Mann vor nicht langem gesagt, daß er den Menschenschlag, der heute die Welt in Verwirrung bringt, in seiner imaginären Jugend dargestellt hat; und so etwas fast vierzig Jahre vorher zu beschreiben, hätte schon etwas von einer Prophezeiung.« (Briefe, Hamburg, Rowohlt, 1981)

Machtstrukturen in abgeschotteten Welten

 

Eine interessante aktuelle thematische Parallele findet sich in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 7./8. September 2024 mit dem Titel »King Loui gibt`s nicht mehr«. Dort berichtet ein mittlerweile 34-jähriger ehemaliger Schüler eines Elite-Internats vom Internatssyndrom oder auch boarding school syndrome und damit von eben solchen Einrichtungen, in denen folgende Regel gilt: »Opfer werden zu Tätern und Täter werden zu Opfern«. Diese Wechsel vollziehen sich innerhalb der Schülerschaft schnell und geräuschlos. Symptome, psychische Folgen von der frühen Trennung vom Elternhaus und dem harten Leben in einem Internat sind Bindungsprobleme, emotionale Isolation, seelische Abschottung, Depressionen, Verlustangst und Alkoholismus. Überlebenspersönlichkeiten oder verwundete Anführer – es gibt viele Begriffe für ehemalige Schüler*innen von Elite-Internaten. Sie haben oft Gewalt oder sexuellen Missbrauch erfahren – denn in abgeschotteten Welten können Täter*innen ihre eigenen Machtstrukturen etablieren.

Eliten höhlen die Demokratie aus

 

Der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann geht in seinem Buch »Die Abgehobenen« (Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2018) darüber hinaus davon aus, dass die Erwachsenen-Eliten, also eine kleine Gruppe von Personen, die überproportionale Macht und Einfluss ausüben und meistens als Jugendliche in Elite-Internaten ausgebildet wurden, die Demokratie aushöhlen und somit gefährden. Sie werden immer mehr zu geschlossenen Gesellschaften. »Die Ausübung von Macht über längere Zeiträume hat zur Folge, dass der Glaube wächst, die allgemeinen Regeln hätten für einen selbst nur noch eingeschränkt Gültigkeit. Da würden eigene Regeln gelten. Man stehe etwas oder auch etwas mehr über dem Gesetz.« Sie treffen politische, wirtschaftliche oder finanzielle Entscheidungen, die gravierende Folgen für die breite Bevölkerung haben. Die Folgen davon sind in unserer heutigen Gesellschaft deutlich zu spüren: Politikverdrossenheit und Rechtspopulismus.

 

Stephanie Wedekind