Spielzeit 2023/24

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wir freuen uns sehr Ihnen die Premieren der kommenden Spielzeit 2023/24 vorzustellen.

 

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Einführung
Spielzeit 2023/24

Wie Sie unserem Jahresheft entnehmen können, widmen wir in der kommenden Spielzeit dem Topos Tyrannenmord ein besonderes Augenmerk. Der Tyrannenmord ist auch in der Kunst und Kunstgeschichte ein vielschichtiges Thema und steht für eine Hoffnung, die wir auch heute nicht aufgeben wollen. So komplex wie sich politische Umstürze in der Geschichte der Menschheit bei genauerem Hinsehen darstellen, so einfach wünschen wir uns Befreiungen, Erneuerungen, und Umstürze, indem die Tyrannen, unterschiedlichster Ausprägung, durch Attentate beseitigt werden.

Der Bezug zur Wirklichkeit beginnt bei der Frage, wer darüber bestimmt, ob es sich bei Machthabern um Tyrannen handelt oder nicht. Darüber kann es kein objektives Urteil geben und damit natürlich auch keine Rechtsgrundlage, einen als Tyrannen empfundenen Machthaber zu ermorden. Die vielen Attentate auf Hitler, lassen uns oft im Gedanken verharren, was alles an Unheil über die Welt hätte vermieden werden können. Dass dabei sehr viele Menschen ihr Idol verloren hätten und die verbleibende Führungsriege der Nationalsozialisten sich nicht zurückgezogen hätte, sondern dieses Ereignis ausgeschlachtet hätte, für was auch immer, muss uns aber auch klar sein und zeigt, dass der Tyrannenmord in der Realität zwar effektvoll, aber unberechenbar ist. Die Emotionen und Sehnsüchte der Menschen sind so machtvoll wie sie unergründlich sind.

Revolutionen sind im Weltgeschehen niemals einfach und oft von Zufällen und unvorhergesehenen Ereignissen geprägt. Die Lösung durch Tyrannenmord der Unterdrückung, Unterjochung und dem Machtmissbrauch zu entkommen, stellt heute faktisch keine Option dar, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – wie wir unlängst beispielsweise im Irak und in Afghanistan wieder zur Kenntnis nehmen mussten. Obwohl diese militärischen und politischen Interventionen fundamental gescheitert sind, lebt die Sehnsucht einer schnellen Lösung weiter, Politik und Gesellschaft eines als dysfunktional eingeordneten Staatswesens neu zu ordnen, indem der Kopf einer Machtstruktur abgeschnitten wird. Der Tyrannenmord ist eine Utopie.

Natürlich beziehen wir uns mit der Interpretation des Gemäldes von Caravaggio, auf die immer häufiger werdenden zeitgenössischen Potentaten, die Demokratie untergraben und heute oft nicht mehr mit militärischen Mitteln, sondern mit dem langsamen, aber stetigen Anpassen der Gesetzesgrundlagen, sich selbst und den Günstlingen immer mehr Macht und Privilegien innerhalb einer Gesellschaftsordnung zuführen – wir erleben es gerade in China, in Russland, aber auch in Israel. In den USA wurde vorerst das Ausschalten von checks an balances abgewendet, anders in der Türkei, in Ungarn, sogar in Polen etc.

Das Gemälde »Judith enthauptet Holofernes« von Caravaggio um 1600 gemalt und zu besichtigen in der Galleria Nationale d’Arte Antica in Rom, fängt einen Moment einer wichtigen Geschichte des Alten Testaments ein, der genau diese Hoffnung bzw. diesen Widerspruch in sich trägt. Es steht für das, was auch Theater ausmacht: Utopien erlebbar zu machen, sich gegen die Rationalität, als limitierendes Maß zu widersetzen und die Möglichkeit zu leben, sich die Welt anders zu denken.

Die kunstgeschichtliche Bedeutung dieses Bildes ist vielschichtig und liegt in der Darstellung eines Gewaltaktes, der aber vom Künstler als solchen verneint wird. Judith ist im Gestus und Gesichtsausdruck, weder rachsüchtig, brutal noch blutrünstig – sie vollzieht konzentriert und präzise, die Trennung von Kopf und Leib. Ihre Assistentin steht bereit und hält pragmatisch ihre Schürze aufgeschlagen, um den Schädel zu transportieren und ihn den Unterdrückten als Beweis und Symbol der Befreiung, zu präsentieren.

Diese Irritation ist nicht nur kunsthistorisch das große Ereignis des Bildes von Caravaggio. Neben der Lichtführung, der Komposition und der Brillanz des Handwerkes, beweist er auch mit diesem Gemälde, dass er die Malerei in ein neues Zeitalter führt. Er zieht und lenkt die Aufmerksamkeit der Betrachtenden und fokussiert auf das Unergründliche, was auch für Kinder unbewusst erkennbar ist, indem er scheinbar sich widersprechende Erzählungen miteinander verbindet. Diese Verfremdung ist Kunst und unsere Kulturleistung muss es sein, diesen künstlerischen Ausdruck niemals mit Bildern aus realem Kriegsgeschehen gleichzusetzen oder zu vergleichen. Es ist die bildliche Darstellung eines Mysteriums.

Gute Kunst stimuliert die uns allen angeborene Fähigkeit, die Zeichen, Symbole und Bilder, sowie ihre Kombination auf einer nicht realen, sondern vielmehr abstrakten Ebene intuitiv zu lesen und zu verinnerlichen. Dieser Prozess setzt die unbewusste und bewusste Interpretation des Werkes, durch eine Einordnung auf der Basis der Erfahrungen und des angeeigneten Wissens in Gang.

Wer sich auf Caravaggios Gemälde einlässt, kann Erfahrungen machen, die sich gesetzten Grenzen entziehen, die jenseits unseres Koordinatensystems von richtig und falsch, von Gut und Böse Gültigkeit haben. Der dargestellte Inhalt, die Hinrichtung des Feldherren Holofernes, kann zur vielschichtigen, mehrdeutigen Metapher werden – eine Erfahrung, die einen starken Eindruck hinterlässt, gerade bei Kindern. Hier kann das Wachsen der Fähigkeit Kunst zu erleben, der sogenannten Rezeption, mit dem Erlernen einer wissenschaftlichen Methode, die eine neue Welt eröffnet, verglichen werden. Das ist meine persönliche Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin und die ich in meine Arbeit einbeziehe.

Mit diesem Motiv umzugehen, heißt für uns heute, es anzueignen, um es mit uns in Verbindung zu bringen. Die geschichtlich dokumentierten Figuren, werden vom Ensemble des Deutschen Theaters verkörpert. Judith ist eine moderne junge Frau, kann auch ein Mann sein, und der Akt der Befreiung hat heute viele Bedeutungsebenen dazu bekommen.

Sie sind der Ansicht, die Variationen dieses Bildes von Caravaggio, die wir unter anderem an den Plakatsäulen vor unserem Haus aufgehängt haben, würden Kinder traumatisieren. Ich möchte dieser These ausdrücklich widersprechen.

Ob ich glaube, dass die Römer Jesus Christus ans Kreuz genagelt haben oder nicht, ist irrelevant. Fakt ist, das Sinnbild, des nackten männlichen Körpers, der mit Nägeln durch Hände und Füße und der mit der Lanze durchstochenen Brust, vor sich hinstrebend an einem Kreuz hängt, und damit erstmal eine Foltermethode der Römer dokumentiert, ist zum Symbol einer Weltreligion geworden und kommt nicht nur in Kirchen, sondern auch an Straßenkreuzungen, Weggabelungen etc. vor und ist in vielen Ländern Teil des öffentlichen Raumes. Der leidende Christus hängt in sehr vielen Klassenzimmern, viele Wohnräume, Stuben und Kammern sind in vielen Regionen dieser Welt geprägt von der Präsenz des leidenden Christus am Kreuz. Hat das Kinder traumatisiert?

Es gibt meines Wissens keine Erhebungen darüber, aber gewiss ist, dass dieses Symbol beispielhaft für ein Sinnbild steht – in diesem Falle die Erlösung der Menschen – und dies begreifen Kinder unbewusst sehr schnell, obwohl es meines Erachtens keinen abstrakteren Vorgang als ›Erlösung‹ gibt. Auf einer anderen Ebene gibt diese Folterszene konkret Einblick, wozu Menschen im Stande sind. Sie können Vernichtungsmaschinerien erfinden und Millionen von Menschen systematisch hinrichten. Sie können andere Menschen bzw. Völker unterjochen, entmündigen, sie ökonomisch ausbeuten und zu einem späteren Zeitpunkt den angeeigneten Reichtum als Gott gegeben verwalten.

Ich bin katholisch erzogen und aufgewachsen und heute jeglichem Glauben äußerst kritisch eingestellt. Die Bedeutung des leidenden Christus als Darstellung des Kerns der katholischen Kirche, habe ich intuitiv verstanden, bevor ich dieses Symbol als Zentrum der Ikonographie der christlich geprägten Kunst einordnen konnte. Diese Darstellung von Aufopferung hat mich interessiert. Sie ist mit ein Grund, warum ich zum Theater gegangen bin. Ich halte ausdrücklich fest, dass andere Menschen hier ggf. andere Erfahrungen gemacht haben. Wir müssen heute die Spannung aushalten, dass die katholische Kirche neben Missbrauchsskandalen, eben auch Kunst und Kultur des Abendlandes maßgeblich beeinflusst hat und Malerei, Architektur, Skulptur, Musik, etc. hervorgebracht hat.

Die Frage wie Kinder resilient werden gegen die Widerstände und Abgründe, die das Menschsein und das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft bereithält, ist sehr vielschichtig. Können Kinder lernen sich zu schützen und Abwehrkräfte zu entwickeln, ohne dass sie an ihrer Verunsicherung und ihrem Zweifel wachsen? Wie begreifen werdende Menschen die Kreativität der Zerstörung, die von der eigenen Spezies ausgeht, ohne den Glauben an Liebe und Zuversicht, sowie an die Veränderung zum Besseren zu verlieren?

Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass Sie es auch nicht wissen. Was ich aber mit Bestimmtheit sagen kann ist, dass gute Kunst, eine Konfrontation mit mir und allem, was mich ausmacht initiiert und einen Raum aufmacht der Erfahrungen ermöglicht, ohne dass die Konsequenzen der Wirklichkeit zu tragen sind. Eine Erlebniswelt, die zum Menschsein gehört, die beglückend und verstörend sein kann, die von unfassbarer Schönheit sowie und manchmal gleichzeitig von Irritation und Verunsicherung geprägt ist.

Als Theaterschaffende wollen wir Menschen bemächtigen, wir trauen ihnen Rezeption von Kunst zu – auch Kindern. Kinder zu schützen ist unerlässlich, aber es gibt auch hier ein Maß, denn der vermeintliche Schutz kann auch das Recht absprechen, Erfahrungen zu machen und einzuordnen.

Verehrtes Publikum,

das Theater ist der analoge Ort gemeinsamen Erlebens, die Bühne erzählt fortwährend von den Menschen, die ihre Optionen nutzen und handeln. Jede Vorstellung im Theater ist eine Annäherung an Freiheit. Wir laden Sie herzlich ein, sich zusammen mit uns diesem Ereignis auszusetzen. Ich freue mich auf viele Begegnungen und Gespräche.

Ihr
Erich Sidler