Ins Netz gegangen 19.10.2024
Leonce und Lena
nach Georg Büchner
Prinzessin Lena vom Reiche Pipi Tara Helena Weiß / Prinz Leonce vom Reiche Popo Roman Majewski / Gouvernante, Rosetta, Präsident Nathalie Thiede / Valerio Gabriel von Berlepsch / König Peter vom Reiche Popo Gerd Zinck
Regie Tanju Girişken / Bühne und Kostüme Marlene Pieroth / Musikalische Leitung Hans Könnecke / Dramaturgie Theresa Leopold / Regieassistenz Sarah Maroulis / Soufflage Carolin Kahnt / Inspizienz Uta Knust / Musikhospitanten Merlin Gebhard, Lukas Stipar / Regiehospitanz Lysander Lukas Widdrat / Ausstattungshospitanz Lilian Haack
Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Technische Einrichtung Marco Wendt, Thomas Tessenow / Beleuchtung Michael Lebensieg (Leitung) / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung, Einrichtung), Mathis Albrecht (Einrichtung), Frank Polomsky (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung), Daniela Niehaus (Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Charlen Middendorf-Tinney (Einrichtung), Reneé Donnerstag (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Schlosserei Robin Senger (Leitung) / Tischlerei Maren Blunk (Leitung) / Malsaal Eike Hansen (Leitung) / Dekoration Axel Ristau, Regina Nause
Aufführungsdauer:
ca. 1 Stunde und 35 Minuten
keine Pause
Probenfotos: Thomas Müller
Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.
1. Juni 1836, Straßburg
Brief Georg Büchners an seinen Freund Eugène Boeckel
Mein lieber Eugen!
Ich sitze noch hier, wie Du aus dem Datum siehst. «Sehr unvernünftig!», wirst Du sagen und ich sage: meinetwegen!
Du siehst, der Zufall hat mir wider aus der Klemme geholfen, ich bin ihm überhaupt großen Dank schuldig und mein Leichtsinn, der im Grund genommen das unbegränzteste Gottvertrauen ist, hat dadurch wider großen Zuwachs erhalten. Ich brauche ihn aber auch; wenn ich meinen Doctor bezahlt habe, so bleibt mir kein Heller mehr und schreiben habe ich die Zeit nichts können. Ich muss eine Zeitlang vom lieben Kredit leben und sehen, wie ich mir in den nächsten 6–8 Wochen Rock und Hosen aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmiren soll, schneiden werde. Ich denke: «Befiehl du deine Wege.» Und lasse mich nicht stören. Das Leben ist überhaupt etwas recht Schönes und jedenfalls ist es nicht so langweilig, als wenn es noch einmal so langweilig wäre.
Ich meine, eine Tour durch die Spitäler von halb Europa müsste einem sehr melancholisch und die Tour durch die Hörsäle unsrer Professoren müsste einem halb verrückt und die Tour durch unsre teutschen Staaten müsste einem ganz wüthend machen. 3 Dinge, die man übrigens auch ohne die drei Touren sehr leicht werden kann, z.B. wenn es regnet und kalt ist, wie eben; wenn man Zahnweh hat, wie ich vor 8 Tagen, u. wenn man einen vollen Winter und ein halbes Frühjahr nicht aus seinen 4 Wänden gekommen, wie ich diess Jahr.
Du siehst ich stehe viel aus und ehe ich mir neulich meinen hohlen Zahn ausziehen lassen, habe ich im vollständigsten Ernst überlegt, ob ich mich nicht lieber todtschießen sollte, was jedenfalls weniger schmerzhaft ist.
Lebwohl
Dein G.B.
Diesen Brief schrieb Georg Büchner nach seiner Flucht nach Straßburg, auf welche er sich begab, nachdem er in Deutschland aufgrund seiner politischen Aktivitäten und der von ihm verfassten Texte im »Hessischen Landboten« steckbrieflich gesucht wurde. Die erwähnte finanzielle Not trieb Büchner zu diesem Zeitpunkt schon länger um. Kurz zuvor hatte er »Dantons Tod« innerhalb von 5 Wochen verfasst, um seine Flucht nach Straßburg zu finanzieren. Dies gelang jedoch nicht und so war Büchner zunächst auf die Zuwendungen durch seine Mutter angewiesen. Seine finanzielle Not führte auch dazu, dass er sich nach dem Verfassen dieses Briefes mit der Ausarbeitung von »Leonce und Lena« befasste. Mit dem Lustspiel wollte er an einem Wettbewerb der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung teilnehmen. Er verpasste jedoch den Einsendeschluss und erhielt das Manuskript ungelesen zurück. Georg Büchner verstarb bereits im Jahre 1837 und erlebte entsprechend die Uraufführung von »Leonce und Lena« im Jahre 1895 nicht mehr.
Widersprüche als Prinzip bei Büchner
Dem gesuchten Anschein von Einfachheit und Leichtigkeit zum Trotz gehört Georg Büchners »Leonce und Lena« bekannterweise zu den komplexesten und am meisten diskutierten Lustspielen der deutschen Literaturgeschichte.
Büchner scheute die Widersprüche und die Kontraste nicht, seine Ästhetik war eine Ästhetik des Widerspruchs, manchmal eines Widerspruchs, der sich durch die Entgegensetzung von Figuren oder Figurengruppen darstellt, manchmal und überwiegend eines Widerspruchs, der sich innerhalb ein und derselben Figur entwickelt. Es ist ihm gelungen, diese Widersprüche ästhetisch produktiv zu machen, dabei hat er sich unter anderem des Paradoxons, des Wahnsinns, des Witzes, manchmal aller drei auf einmal bedient. Die Herausforderung liegt also darin, diese Widersprüche auch interpretatorisch produktiv zu machen, ohne dass wir selbst uns jedoch den ›Luxus‹ des Paradoxons, des Wahnsinns oder des Witzes gönnen dürfen.
Behält man das literarische Gesamtwerk im Blick, dann liegt die Annahme nahe, dass das kontrastive Prinzip den persönlichen Weg Büchners zur Erkenntnis durchs Schreiben, durchs Gestalten darstellt. Dabei enthalten seine Texte das Angebot an die Rezipient*innen, die jeweils auftauchenden Kontraste aufrechtzuerhalten und durch sie an dem Erkenntnisprozess möglicherweise teilzuhaben, der sich zusammen mit dem Text entfaltet und in ihm an ästhetischer Konkretion gewinnt.
Nicht selten nehmen diese Kontraste die spezifische ästhetische Form von Widersprüchen an, die sich in vielen Fällen auf unmittelbare Weise manifestieren. Diese Qualität der Unmittelbarkeit des Widerspruchs bildet naturgemäß auch die wichtigste Grundlage der Komik in Büchners Werk, sowohl der Komik, die die Figuren an ihrer Wirklichkeit entdecken (man denke an Danton, an Leonce, in gewisser Hinsicht auch an Lenz), als auch der Komik, die die Texte produzieren und die in »Leonce und Lena« zum wichtigsten Gestaltungsprinzip der Figuren, der Situationen und der Gespräche wird.
Von der Unsinnigkeit des Ichs in „Leonce und Lena“
Gespaltenheit und Wirrnis kennzeichnen Leonce, der ständig zwischen melancholischen und enthusiastischen Seelenzuständen, zwischen seinem Anspruch auf Sinn und Erfüllung und dem Bewusstsein des Trugcharakters solcher Vorstellungen schwankt. Obwohl Leonce ständig das Ich bemüht, von dem er nie wirklich lassen kann, deckt die Komödie die Ich-Vorstellung als etwas Leeres auf, als etwas kaum mehr Behauptbares, außer auf einer rein sprachlichen Ebene. In diesem Text lässt Büchner den Ich-Begriff – sei er empirisch oder moralisch aufgefasst – an seine Grenzen stoßen und verwandelt seine Behauptung in Unsinn. König Peter, der zu wissen glaubt, wer er eigentlich sei, ist die ästhetische Konkretion dieses Unsinns: Er muss grotesk wirken. Aber auch Leonce kommt nicht viel besser weg, obwohl er – anders als Peter – um diesen Unsinn weiß. Nicht nur kann in Bezug auf »Leonce und Lena« von eigentlichen Identitätskonflikten nicht gesprochen werden; vielmehr kann man kaum mehr von Ich-Identität sprechen, obwohl das Lustspiel das Ich durch Leonce und durch Peter ständig thematisiert. Bei Peter bewirkt diese Thematisierung die komische Selbstentlarvung ihrer Absurdität, bei Leonce stimmt sie hingegen melancholisch.
Aber nicht der Melancholie wird im Lustspiel das letzte Wort gelassen. Die Komödie schließt mit den Worten von Valerio, der kurz davor vor der verängstigten Frage Peters, wer er wohl eigentlich sei, das Ich durch das komische Maskenspiel als reine Fiktion vorführt:
P e t e r. Wer seyd Ihr?
V a l e r i o. Weiß ich’s? (Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab.) Bin ich das? oder das? oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern.
P e t e r. (Verlegen.) Aber – aber etwas müßt Ihr dann doch seyn?
V a l e r i o. Wenn Eure Majestät es so befehlen. Aber meine Herren hängen Sie alsdann die Spiegel herum und verstecken sie ihre blanken Knöpfe etwas und sehen sie mich nicht so an, daß ich mich in ihren Augen spiegeln muß, oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, wer ich eigentlich bin.
Das Ich wird also zum Zitat, es ist ein sprachliches Subjekt, dem eine Vielfalt entspricht, deren Grundvoraussetzung aber eine Leerstelle ist. Mit ihm kann nur noch gespielt werden, man kann sogar eine Rolle übernehmen, wenn der König das ›befiehlt‹, allerdings unter der Bedingung, dass keine Spiegel herumhängen und alles, was widerspiegelt, abgeschafft wird. Den Spiegel, der in der abendländischen philosophischen und literarischen Tradition als Metapher der Selbstkenntnis galt und auch in »Dantons Tod« keine unwichtige Rolle spielt, greift hier Valerio (und durch ihn sein Autor) ironisch auf: Vor einen Spiegel gestellt würde das Ich nicht nur zu keiner Identität gelangen, sondern es würde auch in seinem fiktionalen komischen Spiel mit sich selbst gestört werden: Das widerspiegelte Bild würde einer Festlegung des Ichs ähneln, das nicht festgelegt werden kann.
Valerio spielt mit den Worten und den Begriffen, er spielt mit den Widersprüchen, die Leonce plagen, und als gespielter Narr kann er sich sogar den Luxus nehmen, sie ins Extreme zu überspitzen, wobei er sie allerdings von ihrer dramatischen Belastung befreit. Punktuell gelingt es ihm, Leonce von seiner Melancholie zu retten, zumindest ihn von ihr kurzweilig abzulenken.
Valerio kann sich das Spiel mit der Frage und um die Frage der Identität, unter der Leonce ständig zu leiden droht, erlauben und sogar genießen, auch weil sich für ihn, anders als für Leonce, das Problem nicht stellt, welche Rolle er im Leben einnehmen soll. Er strebt ausschließlich die Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse an, und er versucht, aus jeder Situation einen Gewinn für sich zu ziehen. Allerdings darf sein Materialismus nicht zu ernst genommen werden, da dieser Materialismus ästhetisch begründet ist und dem komischen Wechselgesang Valerios auf Leonces melancholischen Tagträumereien und Lyrismen dient. Valerio ist nicht die materialistische Instanz des Lustspiels, sondern er ist seine komische Instanz, die Leonce erlaubt, sich »auf den Kopf« zu sehen, »ein Anderer zu sein«, wenn auch nur »’ne Minute lang« (vgl. Leonce und Lena I/1). Durch ihn wird das Lustspiel möglich; er stellt sozusagen die Intention Büchners zur Komödie dar, die einen hohen Preis zahlt, und zwar den Preis der Ohnmacht des Narrentums: Der Hofnarr darf alles sagen, weil seine Worte keine Geltung haben.
Quelle: Ausschnitt aus »Das komische Spiel mit der Identität in Georg Büchners Leonce und Lena« von Serena Grazzini, Georg Büchner Jahrbuch 14, 2016-2019