Ins Netz gegangen 7.12.2024

Der zerbrochne Krug

Ein Lustspiel von Heinrich von Kleist

Walter, Gerichtsrat Florian Eppinger/ Adam, Dorfrichter Volker Muthmann / Licht, Schreiber Bastian Dulisch / Frau Marthe Rull Rebecca Klingenberg / Eve, ihre Tochter Stella Maria Köb / Veit Tümpel, ein Bauer Nikolaus Kühn / Ruprecht, sein Sohn Leonard Wilhelm / Frau Brigitte Gaby Dey

 

Regie und Video Moritz Franz Beichl / Bühne Ute Radler / Kostüme Elena Kreuzberger / Komposition und Musikalische Leitung Fabian Kuss / Dramaturgie Stephanie Wedekind / Regieassistenz Justin-Silvan Middeke, Katja Hagedorn / Soufflage Carolin Kahnt / Inspizienz Uta Knust

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Assistent der Technischen Leitung Henryk Streege / Technische Einrichtung Marco Wendt / Beleuchtung Michael Lebensieg / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung), Frank Polomsky (Einrichtung),  Bernd Schumann (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung/Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Charlen Middendorf-Tinney (Einrichtung), Michelle Piehler (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal  Eike Hansen / Schlosserei  Robin Senger / Dekoration  Axel Ristau, Regina Nause / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer ca. 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

 

Probenfotos Thomas Müller

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

Heinrich von Kleist: Vorrede zur Erstausgabe von »Der zerbrochne Krug« 1811

 

Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Faktum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauernkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Deliktum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter misstrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug. – Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister. (aus: Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel, Stuttgart, 2014)

Der Fall Adam Gerichtsverhandlung als Show

 

In einem niederländischen Dorfgericht beschuldigt Frau Marthe Rull Ruprecht, den Verlobten ihrer Tochter Eve, am vorherigen Abend einen Krug in ihrem Haus zerbrochen zu haben. Ruprecht wiederum versichert, dass ein Dritter im Haus gewesen sei und den Krug bei seiner Flucht vom Sims gestoßen habe. Was sich aber im Laufe des Prozesses herausstellt: Der eigentliche Täter ist der Dorfrichter Adam. Der hatte versucht, Eve zu bedrängen, und wurde von Ruprecht gestört, weshalb Adam den Krug zerbrochen und mit einigen Blessuren das Weite gesucht hat. Darum setzt er auch alles daran, nicht aufzufliegen. Erschwerend für ihn kommt hinzu, dass Gerichtsrat Walter unerwartet zur Prüfung in sein Gericht kommt und auch Schreiber Licht langsam misstrauisch wird. Adam versucht, Ruprecht als Schuldigen zu verurteilen und lügt ungeniert. Er weist unverfroren und skrupellos jede Verantwortung von sich. Der Prozess verliert sich im Absurden. Statt – nach dem richterlichen Ideal – die Wahrheit ans Licht zu bringen und Recht walten zu lassen, wird das Geschehene verschleiert. Es ist ein Schauspiel » (…), das sich nicht um die Wahrheitsfindung, sondern um die Verhinderung der Wahrheitsfindung dreht. Und dieses ›Sich-Drehen‹ ist wörtlich zu nehmen. Alle und alles rotiert in diesem Verfahren.« (Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, Frankfurt am Main, 2011)

Offensichtlich war dem Jurastudenten und Dramatiker Kleist die Verwandtschaft von Theaterbühne und Gerichtssaal bewusst: Es sind beides Räume der Sprache. Räume, in denen eine Tat, also eine Handlung ausgesprochen wird, damit zum Sachverhalt aushärtet und verhandelbar erscheint. Doch indem Kleist den Richter Adam zum Täter macht, verleiht der Dramatiker ihm eine Doppelrolle, die ihm im Gerichtssaal nicht zusteht. Dadurch, dass der Richter sich während des Prozesses enttarnt, handelt er wie ein Schauspieler, der sich auf der Bühne die Maske vom Gesicht reißt. Der Schwindel wird offenbar. Für Kleist funktioniert das Gerichtsschauspiel nämlich nur solange der Richter als Autorität unverwundbar wirkt. Nimmt man Adam hingegen als befangenen Richter und fehlbaren Menschen wahr, mit all seinen Lügen, Schwächen und Trieben, gibt es nur noch wenig Grund, das gesprochene Urteil anzunehmen. Damit dieser Identitätsschwindel nicht auffliegt, trägt der Dorfrichter seine Robe, sein Kostüm, und gebraucht festgelegte Phrasen – sein Textbuch. Betritt er den Saal, müssen sich alle anderen erheben. Eine Selbstdarstellung. Eine Performance. Der Mensch unter der Robe spielt eine Rolle, macht eine Show. Es ist seine Show. Er ist der Star und alle anderen spielen nur Nebenrollen. Um diesen Zustand zu bewahren, muss er auf einer verzerrten Sicht der Wirklichkeit beharren. Er ist ein Vielredner und begreift, dass Sprache ein Werkzeug ist. Wenn man mit genug Lautstärke und Überzeugung redet, kann man die Leute auch mit Unsinn überreden. Sie werden bereitwillig alles Unlogische in seiner Sprache übersehen. Wenn ihm die Wahrheit in die Quere kommt, gilt es, das zu ignorieren, zu verhöhnen oder zu verschleiern. Er erkennt intuitiv die Schwächen und Verletzlichkeiten der Anwesenden und kann sie zu seinem Vorteil nutzen. Er ist nicht daran interessiert, die Sprache auf der Suche nach der Wahrheit einzusetzen. Er will um jeden Preis als Sieger aus der Verhandlung hervorgehen und ist bereit, auf dem Weg dahin die Wahrheit in alle Richtungen zu verbiegen oder außer Kraft zu setzen.

Halbwahrheiten zur Manipulation von Wirklichkeit

 

In »Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist ist Dorfrichter Adam also jemand, der versucht, die Deutung der Wirklichkeit mit seiner Macht zu beugen. Er verhindert mit dieser dreisten Manipulation das Klarsehen und macht sich dabei die Sprache zur Komplizin. Es geht nicht um Beweisbarkeit, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit, sondern um Glauben und Glaubwürdigkeit. Es geht um das (Nicht-)Sehenwollen und den Vertrauensverlust, um das Gesehenwerden und das eigene Ansehen. Man erkennt, wie mangelnde Solidarität Mittäter erzeugt, und eine Verurteilung des eigentlichen Täters dabei unmöglich wird. Es ist ein Stück über das Fallen und Stürzen. Und hier greift die Komödie: Im Spaß der Zuschauenden, den Protagonisten unverschämt lügen, stürzen und scheitern zu sehen. Die eigene Verfehlung steht zur Verhandlung an und das auch noch auf dem platten Land bei Utrecht. Indizien sind » (…) ein Krug, der nichts mehr fasst und eine Perücke, die nichts mehr bedeckt. (…) Die Scherben ergeben kein Krugganzes. Kein Detail bestätigt das andere. Unstimmigkeiten häufen sich über Unstimmigkeiten«. (Cornelia Vismann, ebd.) Kleist lässt vieles vor allem in der Sprache verhandeln, die voller Doppeldeutigkeiten steckt und in der gelogen wird, bis die Lüge einem wahr vorkommt.

Nicola Gess beschreibt dieses Phänomen ausführlich in einem Essay: »Halbwahrheiten desorientieren den menschlichen Wirklichkeitssinn. (…) Während der Lügner ex negativo an die Wahrheit gebunden bleibt, öffnen Halbwahrheiten die Tür zu einem derzeit oft als ›postfaktisch‹ bezeichneten Universum, in dem die narrative Kohärenz oder die Konsensfähigkeit einer Aussage über deren Erfolg entscheidet, nicht aber die ›Unterscheidung von Wahrheit oder Unwahrheit‹, die für den ›menschlichen Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen‹ grundlegend ist. Halbwahrheiten sind Äußerungen, die nur zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen aber auf fiktiven Inhalten basieren; Äußerungen, die reale Sachverhalte übertreiben, umdeuten oder in falsche Zusammenhänge stellen; oder auch Äußerungen, die wesentliche Informationen weglassen. (…) Halbwahrheiten verbreiten sich häufig rasant, insbesondere in den sozialen Netzwerken, wo sie nicht nur eifrig kommentiert, sondern oft auch weiterentwickelt und durch ähnliche Geschichten ergänzt werden. Als Instrument des postfaktischen politischen Diskurses, sind sie extrem erfolgreich und schwerer zu bekämpfen als offensichtliche Lügen.« (aus: Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin, 2022.)

Der Fall Eve »Ich kann hier, wer den Krug zerschlug nicht melden«

 

Es geht jedoch im Stück nicht nur um Machtmissbrauch und das Verdrehen von Wahrheit durch den Dorfrichter Adam, sondern vor allem um den Versuch, damit seinen Übergriff in Form von sexualisierter Gewalt zu vertuschen. Eve, so stellt sich erst sehr spät im Stück heraus, wurde von Adam erpresst und bedrängt. Fürchterlich ist es für Eve zunächst, nicht sprechen zu können, um zu verhindern, dass ihr Verlobter in den Krieg ziehen muss. Diese Lüge hatte ihr Dorfrichter Adam nämlich aufgetischt, um sie damit unter Druck zu setzen. Ein Attest für Ruprecht hatte er ihr versprochen. Als er, bereits enttarnt, trotzdem noch versucht, Ruprecht zu verurteilen, bricht sie ihr Schweigen und erzählt den Tathergang. Matthias Käser beschreibt diesen Vorgang so: »Zeug:innenschaft ist ein Sich-Anvertrauen und damit ein Prozess, in dem nicht nur Erinnerungen an Erlebtes vorausgesetzt werden, sondern in dem Zeug:innen auf das Vertrauen ihrer Hörer:innen bauen, mit dem Bezeugten adäquat umzugehen (…) Das Sprechen bricht sich dort Bahn, wo eine Sprache gefunden bzw. anerkannt wird, die so sein darf, wie es den Widerfahrnissen der Betroffenen entspricht – und erst einmal nicht den Ansprüchen des Verstehens vonseiten der Unbetroffenen genügen muss. (…) So unterschiedlich die Erlebnisse mit Gewalt und Ungerechtigkeiten sind, so verschieden gestalten sich auch die sprachlichen Formen, in denen sich das eigentlich Unaussprechliche artikuliert.« (Matthias Käser: Für das Sagbare, Bielefeld, 2023) Umso schlimmer ist es für Eve als am Ende klar wird, dass Adam ohne große Strafe davonkommt. Sie ist fassungslos und bleibt wie gelähmt und beschädigt zurück.

Zieht man Parallelen zu 2024, möchte man meinen, dass solche Übergriffe nach Jahrzehnten des Kampfes für mehr Frauenrechte und spätestens nach der #metoo-Bewegung von 2017 zurückgegangen sind und es besser denn je um die Rechte der Frauen bestellt ist. Das Gegenteil scheint aber leider der Fall zu sein.

 

»Your body, my choice«

 

Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte am 20. November 2024 einen Artikel mit dem Titel: »›Your body, my choice‹: Hass-Slogan nach Trump-Sieg in den USA auf dem Vormarsch« und berichtet darüber, dass sich mit Trumps Sieg bei den Wahlen frauenverachtende Sprache wie ein Lauffeuer verbreite. »Der Slogan ›Your body, my choice‹ (›Dein Körper, meine Entscheidung‹), eingeführt von dem rechtsextremen Influencer Nick Fuentes (26), hat nicht nur Empörung ausgelöst, sondern auch eine Welle frauenfeindlicher Äußerungen und Gewaltandrohungen im Internet entfacht. Dieser provokante Spruch stellt eine groteske Umkehrung des feministischen Mantra ›Mein Körper, meine Entscheidung‹ dar und wird von vielen Trump-Fans als Kampfansage gegen die Selbstbestimmung von Frauen interpretiert. Die Reaktionen auf Fuentes‘ Posts zeugen von einer gestiegenen Bereitschaft, frauenfeindliches Gedankengut offen auszusprechen. (…) Die Rhetorik von Fuentes und seinen Anhängern hat nicht nur die Online-Welt erfasst, sondern manifestiert sich auch in der realen Welt. Berichte aus Schulen etwa zeigen, dass der Slogan ›Your body, my choice‹ als Mittel zur Verbreitung misogynen Gedankenguts verwendet wird. In vielen amerikanischen Schulen haben Schüler den Slogan benutzt, um Mädchen zu belästigen. (…) Die reaktionären und aggressiven Äußerungen, die zusammen mit Trumps Wiederwahl zugenommen haben, zeigen, wie tiefgreifend die gesellschaftlichen Spannungen sind. Viele Trump-Anhänger sehen sich selbst als Verteidiger ›wahrer Männlichkeit‹ und propagieren eine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern, in denen Frauen sich ihren männlichen Gegenübern unterordnen sollen.«

»Die Täter sind nicht nur die anderen«

 

Auch die Süddeutsche Zeitung macht sich in einem Feuilleton-Artikel vom 27. November 2024 mit dem Titel »Die Täter sind nicht nur die anderen« Gedanken über die Zunahme der Gewalt gegen Frauen: »Als vor sieben Jahren und ein paar Wochen die ›Me Too‹-Ära begann, galt es als einigermaßen gesichert, dass es mit den Frauenrechten jetzt nur besser werden kann: Es werde endlich geredet über Belästigung, frauenfeindliche Bemerkungen und körperliche Gewalt, dachte man. Und was sollte besser geeignet sein, die Gesellschaft zu verändern und die Gleichberechtigung, die im Grundgesetz steht, in der Wirklichkeit durchzusetzen, als hitzige Debatten? (…) Das führte so weit, dass inzwischen der 1999 von den Vereinten Nationen ausgerufene ›Internationale Tag der Beseitigung von Gewalt gegen Frauen‹ tatsächlich wahrgenommen wird. (…) Außerdem hat Familienministerin Lisa Paus noch einmal für ihr Gewalthilfegesetz geworben, das die Finanzierung von Frauenhäusern rechtlich verankern und am Mittwoch noch im Kabinett beschlossen werden soll. Man kann sagen: Geredet wird viel über Frauenrechte im Jahr 2024. Allein: Wirklich verbessert hat sich nichts in den vergangenen sieben Jahren.«

Die Zahlen, die das Bundeskriminalamt zu ›geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten‹ veröffentlicht hat, sind mehr als Besorgnis erregend: In allen vorgestellten Fallgruppen hat die Auswertung der Daten aus dem vergangenen Jahr einen Anstieg gezeigt – bei Sexualstraftaten, Femiziden, Menschenhandel, digitaler Gewalt (Zuwachs von 25 % bei Bedrohung, Stalking, Cybergrooming junger Mädchen und andere im Internet begangene Straftaten), häuslicher Gewalt (180 000 Fälle). Zumal es sich hier um einen Bereich mit einer gigantischen Dunkelziffer-Anteil handelt.

»Alle drei Minuten sind Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. (…) Allein diese Zahl macht es eigentlich unmöglich, die Täter nur in den Reihen ›der anderen‹ zu suchen (…) Weder häusliche Gewalt noch Sexualstraftaten sind einer bestimmten Gruppe geschuldet, sie sind kein Prominenten- und kein Migrantenproblem, es gibt sie quer durch die Gesellschaft. (…) Warum wird so viel geredet, ohne dass sich ernstlich etwas bewegt? Es gibt nicht einmal einen Konsens unter den Frauen – der würde erfordern, dass die Debatten um Gleichberechtigung auch tatsächlich eine breite Mehrheit betreffen. (…) Eine echte Veränderung hat gleich mehrere Feinde. Die meisten männlichen Eigentümer der wirtschaftlichen Macht, die sie nicht teilen wollen, auch mit den meisten Männern nicht. Und Männer, die selbst keineswegs die Gewinner eines überdrehten Kapitalismus sind, aber um die Position, die sie darin haben, dennoch fürchten. Und dann geht die Diskussion auch noch an vielen Frauen vorbei. Was fehlt, ist ein verbindliches Wir-Gefühl, das die gesamte Gesellschaft einbindet.« Neben dem Gewalthilfegesetz soll aktuell die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen noch vor der Wahl im Kabinett beschlossen werden, doch die Aussichten dafür sind nahezu aussichtslos.

Stephanie Wedekind