Ins Netz gegangen 5.4.2025

Ajax

Thomas Freyer

Vater/Ajax Bastian Dulisch / Mutter Judith Strößenreuter / Sohn Paul Trempnau / Ajax‘ Geist Charlotte Wollrad / Tekmessa Marina Lara Poltmann / Eurysakes Lou von Gündell / Teukros Gerd Zinck

 

Regie Gustav Rueb / Bühne Daniel Roskamp / Kostüme Nina Kroschinske, Juliane Molitor / Chorkomposition und -einstudierung Matthias Flake / Dramaturgie Stephanie Wedekind / Regieassistenz Justin-Silvan Middeke / Soufflage Julia Schröder / Inspizienz Uta Knust / Regiehospitanz Vincent Sartorius

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Assistent der Technischen Leitung Henryk Streege / Technische Einrichtung Marco Wendt / Beleuchtung Markus Piccio / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung), Mathis Albrecht, Frank Polomsky (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung) / Daniela Niehaus (Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Renée Donnerstag, Charlen Middendorf-Tinney, Michelle Piehler (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal  Eike Hansen / Schlosserei  Robin Senger / Dekoration  Regina Nause, Axel Ristau / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer ca. 1 Stunde, 50 Minuten, keine Pause

 

Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

 

Probenfotos Thomas Müller

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

 

Es wird Stroboskop-Licht verwendet!

»Du machst es kaputt. Alles. Was wir uns aufgebaut hatten. Wir waren doch glücklich.« Mutter

 

Thomas Freyer untersucht in »Ajax« die Verheerungen, die toxische Männlichkeit und Gewalt, Kriege und Verschwörungserzählungen in persönlichen und sozialen Beziehungen anrichten. Er schafft es, durch die Verschneidung von Sophoklesscher Antike und unmittelbarer Gegenwart, inhaltliche Verbindungen herzustellen, die die Jahrtausende überdauern. Wie dieses Stück entstanden ist und welche Aspekte Thomas Freyer besonders wichtig waren, erfahren Sie in dem Interview mit dem Autor. Zur Rolle des Helden in heroischen Gemeinschaften und dem Übergang von heroischen in postheroische Gesellschaften und vom apokalyptischen Lebensstil des ›Preppens‹ lesen Sie in zwei weiteren Texten.

TÜRÖFFNER FÜR DIE GROSSEN THEMEN

Thomas Freyer über sein Stück »Ajax« im Gespräch mit dem Redakteur Thomas Irmer

 

Das Stück verschränkt die Geschichte einer deutschen Familie von heute mit der des Ajax im Trojanischen Krieg. Schon in der Prolog-artigen ersten Szene sind beide Ebenen miteinander verbunden. Wie sind Sie auf diesen Ansatz gekommen, die Antike mit unserer unmittelbaren Gegenwart kurzzuschließen?

 

Thomas Freyer: Ich hatte schon länger damit geliebäugelt, mich mit einem antiken Stoff zu beschäftigen. Aus Dresden kam dann der Vorschlag, ein Stück zu Verschwörungserzählungen zu schreiben, was ich anfangs gar nicht wollte, obwohl ich das Thema spannend fand. Ich konnte all dieses Zeug nicht noch auf einer Bühne reproduzieren. Dann war da dieser Ajax-Stoff, auf den ich gestoßen bin. Und plötzlich konnte ich dort Schnittpunkte zu Verschwörungserzählungen entdecken. Außerdem brachte Ajax das Thema Krieg mit sich. Eine Art Multiplikator für Verschwörungsberichte.

 

Ajax ist ein Krieger auf Seite der Griechen im Krieg von Troja, das als »ein Netz, das sich über den ganzen Erdball spannt« bezeichnet wird. Der Vater Michael bereitet sich auf einen Krieg vor, den er als Weltverschwörung heraufziehen sieht. Werden in dieser Spiegelung die Vorstellungen von Reichsbürgerideologien und anderen nicht noch vergrößert und in einer seriösen kulturellen Tradition auf die Bühne gebracht?

 

TF: Spannend ist ja, dass die »Illias« selbst voller Verschwörungserzählungen ist. Sie tauchen als Weissagungen der Seher oder der Götter und Göttinnen auf beiden Seiten des Schlachtfelds auf. Im Wahn hält Ajax zum Beispiel Schafe für griechische Krieger und einen Bock für Odysseus. Fast in mittelalterlicher Tradition muss der Heerführer Agamemnon die erbeutete Astynome zurückgeben, um den Ausbruch der Pest im Lager der Griechen zu beenden. Oder Hector, der sich einem Zweikampf mit Ajax nur zu stellen scheint, weil ihm ein Seher versichert, dass sein Tod noch nicht vorgesehen ist. Mit dem Abstand der Zeit ist es vielleicht leichter, die Struktur, die Verschwörungserzählungen zugrunde liegt, zu durchdringen. Heutige Beispiele wollte ich nicht weit ausbreiten. Es hätte mich und das Publikum gelangweilt.

Der Trojanische Krieg wird in Ihrem Stück mit heutiger Kriegslogik beschrieben: Zivilist*innen werden als Waffe gesehen und Troja soll nicht erobert, sondern vernichtet werden. Also als typische Aktualisierung?

 

TF: Mich hat beim Lesen der »Illias« überrascht, auf wie viele Punkte ich gestoßen bin, an denen auch von einem heutigen Krieg die Rede sein könnte. Die Griechen haben einen ungebrochenen Vernichtungswillen. Aus Frust über ausbleibende militärische Erfolge werden wehrlose Hirten abgeschlachtet. Den schwangeren trojanischen Frauen soll der Bauch aufgeschlitzt werden. Meine Aktualisierung bestand eher daraus, diese Punkte herauszuarbeiten.

 

»Ajax« gehört ja zu den eher selten aufgeführten Tragödien von Sophokles, was wohl auch damit zu tun hat, dass ein idealisierter Krieger am Ende dem Wahnsinn erliegt und »über sein Schwert gebeugt verdorrt«, wie es in Ihrer Version heißt. Dem Wahnsinn von Ajax geben Sie nicht allzu viel Raum oder Bedeutung. Warum?

 

TF: Der eigentliche Akt des Wahnsinns ist für mich nicht so spannend wie die Umstände, aus denen heraus das möglich geworden ist. Gleichzeitig wohnt diesem Wahnsinn immer ein Aspekt der Beliebigkeit inne. Alles ist möglich, weil alles imaginierbar ist. Sich darauf zu konzentrieren, hätte bedeutet, ein anderes Stück zu schreiben.

Heiner Müller, der vor allem vom Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre mit seinen Stücken die Antikentradition in der deutschen Theatergeschichte erneuerte, sprach von einem »Modell für den Terror der Gattung«. Was ist denn die Antike für Sie? Gibt es noch mehr Möglichkeiten, mit ihr zu arbeiten?

 

TF:  Eine spannende Frage. Das Interessante an den antiken Stoffen ist für mich unter anderem das Verhältnis von Masse zu Individuum, vom Held zum Staat. Antike Stoffe bieten übertragbare Strukturen. Man muss sie nicht völlig ins Jetzt transferieren. Das wäre außerdem albern. Die Geschichten bilden zudem eine Art Grundbau, in den man sich einschreiben kann. Müller lässt bei »Philoktet« die Schlange, die Philoktet diese faulige Wunde zufügt, sichtbar erscheinen, während sie bei Sophokles verborgen ist. Das ist nur ein Beispiel, aber diese kleine Änderung richtet das Stück anders aus. Da die Stoffe meist bekannt sind, schreibt man sich außerdem in eine Erfahrung ein, die man bedienen oder hintergehen kann. Ajax wiederum ist nicht nur Held, sondern wie sein Sohn Eurysakes Thronfolger. Sein Handeln steht immer auch in Verbindung mit dem königlichen Staat. Der antike Stoff ist hier auch eine Möglichkeit, einen größeren Bogen zu spannen. Hätte ich ausschließlich über die Kleinfamilie irgendwo am Rande einer deutschen Stadt geschrieben, wäre es eine privatere Erfahrung. Das, was Müller als »Modell für den Terror der Gattung« beschreibt, verstehe ich als Möglichkeit, den staatlichen Terror zu verhandeln. Krieg gehört zu diesem Muster. Das Bild von aggressiver Männlichkeit ebenso. Der Antikenstoff ist da ein Türöffner, weil er mögliche Verhandlungshorizonte bereitstellt, die ich mir als Autor greifen kann. Es ist eigentlich alles vorhanden. Die sogenannten großen Themen.

 

Wie würden Sie Ihr Verfahren bezeichnen? Adaption, Überschreibung, Neuschöpfung? Oder noch anders?

 

TF: Vielleicht ist es sowohl eine Überschreibung als auch eine Neuschöpfung. Die Figuren der Kleinfamilie sind eine hinzugedachte Ebene. In den »Ajax«-Stoff selbst habe ich mich eher eingeschrieben und nach Übersetzungen für die Reihenhausfamilie gesucht. Das Trojanische Pferd zum Beispiel taucht in der antiken Ebene meines Stücks nur nebenbei auf. Eurysakes sitzt darin. Gleichzeitig ist das Zurückkommen des Familienvaters ins Haus, begleitet von Versprechungen, sich wirklich und von Grund auf geändert zu haben, ein ganz ähnlicher Moment. Die Mutter kann die Gefahr, die nach wie vor vom Vater ausgeht, nicht sehen und lässt ihn, anders wäre er nicht hineingekommen, ins Haus zurück, wo er erneut zu wüten beginnt.

 

[erschienen in: Theater der Zeit: Überschreibungen des Kanons – Antike und Gegenwart – „Ajax“ von Thomas Freyer, 01/2024]

HEROISCHE UND POSTHEROISCHE GESELLSCHAFTEN

 

Die Figur des Helden ist ein gesellschaftliches Faszinosum, von der »Ilias« als der ersten großen Darstellung heroischer Werte und Lebensformen bis zu den Hollywoodproduktionen unserer Tage, die ihre für den Kassenerfolg ausschlaggebende Spannung nicht selten aus dem Aufstieg, Triumph und Untergang des Helden beziehen. Dabei ist der Held keineswegs zwangsläufig ein Krieger. (…) Aber die Vorstellung vom Helden ist doch zumeist eng mit Gewalt und Krieg verbunden. (…) Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens. (…) Die durch das Opfer des Helden vor Unheil oder Niederlagen bewahrte Gemeinschaft dankt ihm dies mit Prestige zu Lebzeiten und ehrenhaftem Andenken nach dem Tode. So sind Held und Gesellschaft durch die Vorstellung des rettenden und schützenden Opfers miteinander verbunden. (…) Demgemäß ist der Held nicht durch seine Kampfkraft, sondern durch die Opferbereitschaft definiert. Im Umgang mit dem Wissen um dieses Opfer erweist sich das Heroische. (…)

Heroische Gemeinschaften sind von einer tragischen Grundstimmung durchzogen, die Helden begreifen sich als die letzten oder doch vorletzten ihrer Art; um sie herum breiten sich unheroische Einstellungen aus, gegen die man zwar Widerstand leisten kann, denen man letztlich aber unterliegen wird. (…) Das Selbstbewusstsein des Heroischen ist unglücklich. Es ist vergangenheitsfixiert und rückwärtsgewandt, weil es ihm an Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft mangelt. Der dem Heroischen eingeschriebene Gedanke des Opfers ist offenbar zu einem positiven Blick in die Zukunft wenig geeignet − jedenfalls aus der Sicht des Helden. Die Gesellschaft, die durch sein Opfer gerettet wird, besteht nicht aus seinesgleichen, denn sonst hätte sie des Opfers nicht bedurft. Aber auch unter seinesgleichen fühlt sich der Held auf Dauer nicht wohl: Überall lauert Verrat. Kein Held, der seine Bahn geht, ohne von Verrat und Tücke umgeben zu sein. Was unter diesen Umständen bleibt, ist allein die Ästhetik des Untergangs: ein heldenhafter, schöner Tod. (…) Heroische Gesellschaften befinden sich in einem ständigen Taumel von Kraft und Siegeszuversicht. Sie sind durchherrscht von einer Vorstellung nationaler Ehre, die bei dem geringsten Anlass schon als verletzt gilt und durch einen Waffengang wiederhergestellt werden muss. Heroische Gesellschaften befinden sich in einem Zustand der Dauererregung, weswegen die Zusammenballung mehrerer solcher Gesellschaften innerhalb eines Großraums zu einem Zustand häufiger Kriege und permanenter Kriegsbereitschaft führt. (…) Es sind Kriege unter den Bedingungen einer totalen Mobilisierung, die sämtliche materiellen wie psychischen Ressourcen erfasst. Die Folge solcher Kriege ist die Ermattung und Erschöpfung dieser Gesellschaften, die sich innerhalb kürzester Zeit aus heroischen in postheroische Gesellschaften verwandeln. (…)

In jüngster Zeit ist vermehrt darauf hingewiesen worden, dass die Konjunkturen des Heroismus weniger mit dem Einfluss bestimmter politischer Ideen, mit der Vorherrschaft kriegerischer Religionen oder überhaupt mit Lernprozessen zu tun hätten als vielmehr mit demographischen Faktoren und dem Anteil von Jugendlichen unter achtzehn Jahren in einer Gesellschaft. (…) Im Unterschied zu den reichen Ländern der OECD-Welt »können die Familien der Dritten Welt einen oder gar mehrere Söhne verlieren und immer noch weiter funktionieren … Drittweltländer können Millionenarmeen junger Männer ins Feuer schicken, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden, weshalb für sie der Heroismus als wirkliche Chance erscheinen kann.« (aus: Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Zürich, 2003) Dem haben die reichen Länder des Nordens, an ihrer Spitze die USA, allenfalls ihre technologische Überlegenheit entgegenzusetzen. (…) Das ist das Problem der Entstehung postheroischer Gesellschaften: dass dies nicht im globalen Maßstab synchron erfolgt, sondern überwiegend die reichen Gesellschaften des Nordens in eine postheroische Phase eintreten, während im Sinne einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen viele Gesellschaften an der Peripherie der Wohlstandszone gerade aus der präheroischen in die heroische Phase übergewechselt sind. Sei es nun der Reichtum an Söhnen als materielle oder die Intensität religiöser Vorstellungen als ideelle Grundlage des Heroismus − diese Gesellschaften entwickeln eine Dynamik, die fast immer selbstzerstörerische Folgen hat, in einigen Fällen aber auch zu einer aggressiven Wendung nach außen führt, die in den sich schnell bedroht fühlenden postheroischen Gesellschaften Angst- und Panikattacken zur Folge hat. Das geht gelegentlich soweit, daß bereits Ankündigungen von Terrorgruppen oder Videos über die Ausbildung von Selbstmordattentätern in den postheroischen Gesellschaften hysterische Reaktionen auslösen, zumal dann, wenn dort bereits erste von Selbstmordattentätern ausgeführte Anschläge stattgefunden haben. (…) Tatsächlich ist der Terrorismus trotz der objektiv sehr überschaubaren Bedrohung, die von ihm ausgeht, die größte Herausforderung postheroischer Gesellschaften, weil er sie an einer Stelle attackiert, an der sie tendenziell wehrlos sind. (…)

 

[Auszüge aus: Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, erschienen in: Merkur Nr. 700, September 2007]

VORBEREITET AUF DEN ZUSAMMENBRUCH DER GESELLSCHAFT

 

Ein vollgetanktes Fluchtauto, eine prall gefüllte Vorratskammer oder regelmäßige Schießübungen – Preppen kann viele Formen annehmen. (…) Als Prepper bezeichnet man Menschen, die stets auf das Eintreten einer Katastrophe und den darauffolgenden eventuellen Kollaps der gesellschaftlichen Infrastruktur vorbereitet sind. »Diese Vorbereitungen zielen auf das eigene Überleben ohne fremde institutionelle Unterstützung«, sagt Mischa Luy, der an der Ruhr-Universität Bochum in der Fakultät für Sozialwissenschaft seine Doktorarbeit zu dem Thema schreibt. »Die Vorbereitungen können Wissensbestände umfassen, Praktiken, Techniken, Geisteshaltungen und Objekte. Wenn man sich mit den Menschen unterhält, sieht man, dass das Preppen ein sehr komplexes Phänomen ist.«

Während in den USA viel zum Preppen geforscht wurde, gibt es in Deutschland bislang kaum eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit. Schätzungen zufolge leben in der Bundesrepublik zwischen 10.000 und 200.000 Prepperinnen und Prepper, wobei die Mehrheit männlich ist. Die große Spannweite der Zahlen ist ein Indiz dafür, wie wenig über das Phänomen bekannt ist. Warum werden Menschen zu Preppern und wie begründen sie ihr Verhalten? (…) Zwei Typen haben sich herauskristallisiert: Mischa Luy bezeichnet sie als »Bug In« und »Bug Out«. Beim Bug In bunkern sich die Leute zu Hause ein, legen viele Vorräte an und nutzen häufig ihr technisch stark ausgeprägtes Wissen, um beispielsweise Stromgeneratoren oder Wasserfilter anlagen einzurichten. Die Strategie zielt darauf ab, zu Hause ohne Hilfe von außen überleben zu können. Beim Bug Out bereiten sich die Prepper stattdessen auf eine Flucht vor. Sie haben vollgepackte Koffer und ein getanktes Fluchtfahrzeug parat stehen, um im Wald oder an einem sicheren Zufluchtsort ausharren zu können, bis die Lage besser wird. Klar ist: Den einen Prepper gibt es nicht. »Es gibt Leute, die das Preppen nicht ihr Leben beherrschen lassen wollen und die nur für zwei Wochen vorsorgen. Für andere wird es eine Art Lebensführung«, so der Sozialwissenschaftler. »Das Preppen bestimmt ihre Entscheidungen: Sie machen zum Beispiel regelmäßige Notfallübungen, gehen nicht mehr auf einen Weihnachtsmarkt, weil sie Angst vor Terroranschlägen haben, oder verlassen das Haus nur mit einem Everyday Carry – einem Rucksack, in dem die wichtigsten Gegenstände immer bereit sind.«

Oft ergibt sich ein Teufelskreis: Menschen beginnen mit dem Preppen, um Sicherheit zu schaffen. Aber je mehr sie sich mit den Vorbereitungen beschäftigen, desto mehr fallen ihnen auch potenzielle Gefahren ein, die wieder neue Unsicherheit schaffen. Luy bezeichnet das als expansive Dynamik. Die Gründe, warum Menschen mit dem Preppen anfangen, können genauso vielfältig sein wie die Vorbereitungen. Die eigene Biografie spielt dabei immer eine Rolle. »Manche Menschen nennen einschneidende Erlebnisse, etwa eingeschneit sein auf der Autobahn, einen Stromausfall oder das Miterleben von Terroranschlägen während eines militärischen Auslandseinsatzes«, erklärt Luy. Manche Prepper beziehen sich auf Erfahrungen der Großeltern oder Eltern, also der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration, die Erfahrungen von Mangel gemacht haben. Viele geben zudem an, dass prepperaffine Tätigkeiten zunächst ein Hobby waren, etwa die Vorbereitung von Outdoor-Touren. Und manche nennen auch Situationen wie den Ukrainekonflikt oder die Wirtschaftskrise als Gründe, die offenbart haben, wie fragil eine Gesellschaft sein kann. Generell scheinen viele Prepper einen naturwissenschaftlich-technischen Hintergrund zu haben oder aus dem Militär- oder Sicherheitsbereich zu kommen. Für viele, so eines von Mischa Luys Ergebnissen, gehe es aber nicht nur um die eigene Sicherheit, sondern auch um die Fürsorge für die Familie oder um ein Gefühl der Freiheit und Autarkie. »Es ist fast eine Zivilisationskritik«, beschreibt der Forscher. »Prepper sagen, die Menschen fühlten sich heute zu sicher, seien zu sehr abhängig von der Technik und könnten nicht mal mehr selbst ein Feuer machen oder ein Rad wechseln.« Sie wollen selbst wieder zu Experten werden und nicht von der arbeitsteiligen Gesellschaft abhängig sein. »Bei manchen treten aber auch Züge von Misstrauen gegenüber dem Staat zutage«. (…)

 

[Auszüge aus: Mischa Luy: Vorbereitet auf den Zusammenbruch der Gesellschaft, erschienen in: RUBIN, Wissenschaftsmagazin, Nr. 1/2021]