Ins Netz gegangen 7.3.2025
Die ersten hundert Tage
Lars Werner
Uraufführung
Marin Moritz Schulze / Silvio Christoph Türkay / Lou Yve Grieser / Roya Mariann Yar / Vera Nathalie Thiede / Grenzer Florian Eppinger
Regie Ebru Tartıcı Borchers / Bühne, Kostüme Sam Beklik / Musik Dani Catalán Dávila / Dramaturgie Theresa Leopold / Regieassistenz Sarah Maroulis / Soufflage Gerald Liebenow
Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Marlen Hartling / Assistent der Technischen Leitung Henryk Streege / Leitung dt.2 Tobias Gleitz / Beleuchtung Ottmar Schmidt / Ton- und Videotechnik Mathias Schirrmeister, Tobias Steinfort / Requisite Sabine Jahn (Leitung), Daniela Niehaus (Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Renée Donnerstag (Einrichtung), Mats Marcinkowski (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal Eike Hansen / Schlosserei Robin Senger / Dekoration Axel Ristau / Tischlerei Maren Blunk
Aufführungsdauer
ca. 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte
Hartmann & Stauffacher Verlag GmbH,
Verlag für Bühne, Film, Funk und Fernsehen, Köln
Probenfotos
Anton Säckl
Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.
Lars Werner zu der Entstehung und den Hintergründen von »Die ersten hundert Tage«
Lars Werner schrieb das Stück »Die ersten hundert Tage« vor nahezu zwei Jahren – ein Stück über Freundschaft, aber eben auch über das Abdriften von geliebten Menschen nach Rechts. Diese Thematik war natürlich bereits vor den CORRECTIV-Recherchen ein Sujet, über das es sich zu reden lohnte. Doch gerade nach den letzten Wahlen ist dieser Text aktueller denn je. Hier erfahren Sie nun mehr zu den Hintergründen des Stückes.
Du hast das Stück vor den Enthüllungen der CORRECTIV-Recherchen geschrieben. Gab es einen bestimmten Impuls dafür?
In den letzten Jahren ist immer deutlicher geworden, dass es seitens der bürgerlichen Mitte keine adäquate Antwort auf die Rechten gibt. Nach Kemmerichs Coup 2020 in Thüringen hatte eine nahende Regierungsbeteiligung rechtsradikaler Kräfte für mich nichts mehr mit Alarmismus zu tun. Viel zu viele »Dammbrüche« und »Ausnahmen in Sachfragen« folgten, bis durch die Abstimmung der CDU mit der AfD im Januar klar wurde, dass die Konservativen fest mit einer Zusammenarbeit mit den Rechten planen.
Eine Antwort vieler weißer Menschen auf diese Bedrohung ist die Aussage: »Dann wandere ich aus.« In »Die ersten hundert Tage« stelle ich auch diesen Impetus ins Zentrum der Handlung, frage, was das wirklich bedeuten würde und welche Privilegien in dieser Aussage mitschwingen.
Neben diesen politischen Impulsen hatte ich damals schon länger einige der Motive des Stückes im Kopf, ohne direkte Idee, wo ich sie unterbringen sollte. An einem ersten kalten Herbstmorgen bin ich dann durch Berlin geradelt und habe mir dazu die Italo-Wedding-Playlist angemacht, die ich von einer Sommer-Hochzeit mitgenommen hatte. Plötzlich war da der erste Monolog, und als ich zuhause ankam und anfing zu schreiben, war da Marin.
Hatten die CORRECTIV-Recherchen dennoch einen Einfluss auf den Text?
Die Recherche erschien im Januar 2024, da war die Verlagsfassung von »Die ersten hundert Tage« bereits lange fertig. Wer aber überrascht war vom »Geheimplan gegen Deutschland«, der hatte einfach das Parteiprogramm nicht gelesen oder nicht ernst genommen. Das steht da eigentlich mehr oder weniger alles drin. Dementsprechend tauchen Teile davon im Stück auf.
Was passiert in den ersten hundert Tagen?
Sicher nicht in vollem Umfang das, was ich im Stück skizziere. Da habe ich notwendigerweise verdichtet. Wir haben rechtstaatliche Strukturen, die einige Monate brauchen, bis sie komplett erodieren. Ziemlich sicher sind allerdings Dinge, die auch jetzt schon gemacht oder geplant werden. Aussetzung des Schengen-Abkommens, weitere Verschärfung der ohnehin schon brutalen Abschiebungspolitik, Abschaffung sozialstaatlicher Absicherungen und Deregulierung der Märkte. Ich gehe davon aus, dass rechte Hooligans noch selbstbewusster Straßengewalt ausüben werden, ermöglicht durch eine strukturell rechts-offene und rassistische Polizei. In Magdeburg hat man gesehen, wie sich eine Stadtbevölkerung von wenigen radikalen Kräften treiben und wandeln lassen kann.
Durch Trump und die Vorkommnisse in Polen während der Regierungszeit der PiS wissen wir auch, welche anderen Ziele in den ersten Monaten verfolgt werden. Es werden Strukturen in Gerichten, öffentlichen Medien und Behörden eingerichtet, die Jahrzehnte brauchen, um wieder zu verschwinden. Ich habe mit Leuten gesprochen, die sagen, mein Nachbar wählt die jetzt mal, und wenn die schlecht sind, entzaubern sie sich doch durch Regierungsbeteiligung. Der Schaden dauert aber länger als eine Legislaturperiode. Begleitet wird dies sicher, wie in den USA, von umfallenden Medien und Persönlichkeiten, die sich dem Kurswechsel anschließen. All das verstärkt Ohnmachtsgefühle und Angst.
Es gibt im Stück immer wieder Rückblenden zu den besseren Zeiten, sowohl auf politischer Ebene als auch in Bezug auf die Freundschaft der Protagonist*innen – diese werden oftmals eingeleitet mit dem Wort »Aktualisieren«. Wofür steht es?
Aktualisieren steht für das permanente Wieder-Laden von Nachrichten-Websites, oder Twitter und Insta, im Falle von Katastrophen oder politischen Entwicklungen. Das Haltsuchen im Kennen aller Schlagzeilen ist auch ein Ersatz für Aktivismus. Gleichzeitig holt Marin durch dieses Aktualisieren alte Zeiten wieder nach vorne, erinnert sich. Diese Zeiten wirken auch im Jetzt, und das Heute verändert den Blickwinkel auf die Vergangenheit. Diese Erinnerungen und das Gegenüberstellen einer feindlichen Realität fragt auch, ob es wirklich bessere Zeiten der Freund*innen waren. Oder haben sie nur noch nicht alles übereinander gewusst?
Silvio, der im Prinzip die Ausgangssituation des Stückes schafft, ist als Figur am unvorhersehbarsten. Was sind seine Motive?
Silvio wird angetrieben von Ehrgeiz. Zwischen ihm und Roya gibt es eine klare Konkurrenz. Gleichzeitig hat er ein Leben gewählt, dass gesellschaftlich akzeptierten Linien folgt: Ehe, Kinder, Karriere. Er fühlt sich von seinen Freund*innen dafür verachtet. Der Bruch zwischen den vieren begann weit vor der Hochzeit. Diesen Gram hat Silvio in einen Trotz verwandelt, mit dem er seine Laufbahn vorantreibt. Tief in sich weiß er vielleicht sogar, dass er nicht mehr auf der »richtigen Seite« ist, aber er sieht auch mit Blick auf seine ehemaligen Freund*innen, was die andere Seite kostet: Sie haben fast alles verloren, sind im Exil. Das ist für jemand wie Silvio keine Option – er will mitmischen. Zugleich entschuldigt er seine Anpassung an die rechten Strukturen auch mit einer Absicherung seiner Familie.
Was verbindet diese Friends noch miteinander, die sich zwei Jahre lang nicht gesehen haben?
Eine zutiefst widersprüchliche Liebe, die sie nicht einfach abstellen können. Auf den ersten Blick gehören sie ja schon lange nicht mehr zusammen. Aber die Wahlfamilie hinter sich lassen ist unglaublich schwer. Sie verdanken einander zu viel, als dass sie sich nicht immer nochmal eine Chance geben würden. Diese soft spots für Menschen, die man eigentlich schon lange hinter sich lassen wollte, kennen sicher einige.
In dem Stück wird Marin als »lauwarm« bezeichnet. Was bedeutet es für dich, in dieser politischen Lage lauwarm zu sein?
Der Vorwurf soll vor allem Unentschiedenheit und Mitläufer*innentum benennen. Marin ist oberflächlich betrachtet bei der richtigen Sache dabei: im Exil mit seinen Freund*innen. Aber er ist unentschieden, warum er das tut, hat keinen ersichtlichen Grund. In Deutschland könnte er auch wichtige Arbeit gegen die neue Regierung machen. Damit steht er für viele weiße Deutsche, die sagen: »Wenn die AfD gewinnt, dann wandere ich aus.« Das wirkt je nachdem wie ein halber Scherz oder wie Ausdruck radikaler Haltung. Radikaler wäre es aber zu bleiben, Betroffene zu schützen und zu handeln, solange es möglich ist. Dana von Vowinckel schrieb dazu neulich in der Zeit: »So sehen sie wohl aus, die Enkelkinder der Omas, die alle im Widerstand waren.«
Silvio wiederum will lauwarm sein dürfen, in einem rechten Land und in rechten Strukturen eine Karriere machen, ohne dass er deswegen gleich selbst rechts sein muss. Damit ist er ein Vertreter derer, die heute von den Diskussionen um den Rechtsruck unberührt sein wollen, die meinen, das hat nichts mit ihnen zu tun. Es gibt bei diesen Themen aber keine Möglichkeit, unbeteiligt zu bleiben. In den Nuller- und Zehnerjahren gab es auch immer die, die meinten, dass sie weder rechts noch links seien. Wer aber »unpolitisch« ist, entschließt sich einfach, rechte Gewalt zu ignorieren und ist dadurch an ihrer Ausbreitung beteiligt.