Ins Netz gegangen

La Révolution #1 – Wir schaffen das schon

Joël Pommerat
Aus dem Französischen von Isabelle Rivoal

Gekürzte Fassung des Deutschen Theaters Göttingen

König Volker Muthmann / Königin, Journalistin, Frau Rebecca Klingenberg / Elisabeth, (Schwester des Königs), Angestellte im Rathaus, Abgeordnete Boulay,Frau Marina Lara Poltmann / Protokollchef, Abgeordneter des Adels Du Réau, Erzbischof von Narbonne, Camus, Mann Nikolaus Kühn / Justizminister, Offizier, Abgeordneter Lagache, Abgeordneter Lamy Florian Eppinger / Müller (Premierminister), Mann Bastian Dulisch / Kirchenvertreter, Abgeordneter des Adels Marbisk, Mitglied der Bürgerwehr Ronny Thalmeyer / Abgeordnete des Adels Versan de Failliem, Frau Nathalie Thiede / Abgeordneter des Adels Dumont Brézé, Offizier, Abgeordneter Boudin Marco Matthes / Abgeordneter des Adels De Lacanaux, Fernsehjournalist, Mann, Kristoff Hémé (radikaler Journalist) Moritz Schulze / Abgeordneter Carray, Mann Paul Trempnau / Abgeordneter Boberlé, Mann Gerd Zinck / Abgeordneter Gigart, Mann Gabriel von Berlepsch / Abgeordnete Lefranc, Frau Tara Helena Weiß / Abgeordneter Cabri, Sitzungsvorsteher, Mann Roman Majewski / Abgeordnete Hersch, Frau Gaby Dey

 

Regie Schirin Khodadadian / Bühne und Kostüme Carolin Mittler / Licht Michael Lebensieg / Musik Johannes Mittl / Dramaturgie Michael Letmathe / Mitarbeit Bühne und Kostüme Jana Katalin Heist / Inspizienz Uta Knust /  Soufflage Carolin Kahnt / Regieassistenz Lillian Sophie Jöster / Regiehospitanz Lysander Lukas Widdrat

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Technische Einrichtung Marco Wendt, Thomas Tessenow / Beleuchtung Michael Lebensieg (Leitung) / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung, Einrichtung), Mathis Albrecht (Einrichtung), Frank Polomsky (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung, Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Charleen Middendorf-Tinney (Einrichtung), Michelle Piehler (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal Eike Hansen / Schlosserei Robin Senger / Dekoration Axel Ristau, Regina Nause / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden, eine Pause
Aufführungsrechte: Merlin Verlag, Gifkendorf

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet

 

Probenfotos: Thomas Müller

»Sprechen wir miteinander, verhandeln wir weiter, ab morgen, ab heute Abend, wenn nötig Tag und Nacht …«

 

Wir befinden uns in den Stunden vor der Französischen Revolution. Ein Neubeginn steht bevor, das Aushandeln eines neuen Gesellschaftsvertrags wird zum Kern des Aufbegehrens. Der Autor Joël Pommerat möchte aber nicht die Vergangenheit rekonstruieren, sondern der Vergangenheit neues Leben einhauchen und sich von ihr inspirieren lassen. Er benutzt historische Ereignisse, hält sich an deren Chronologie und benutzt sie, um dem Publikum etwas über heute zu erzählen. Nicht unbedingt ein Stück mit einer politischen Haltung, aber in jedem Fall ein Stück über Politik. Unsere Identitäten fließen durch einen historischen Mantel. Schon zu Beginn hat man das Gefühl, es gut um uns im Hier und Jetzt, unsere Gesellschaft im Jahr 2024. Es stellen sich schnell die Fragen danach, was hält uns zusammen, und welche Gesellschaft glauben wir überhaupt zu teilen – und sehen das alle gleich? Joël Pommerat gelingt es, die verschiedenen Auffassungen, Positionen und Debatten rhetorisch so auf den Punkt zu bringen, dass man beim Zuschauen die unterschiedlichsten Positionen einnimmt und sich durch die Verführung des Wortes gezwungen sieht, auch schnell zu überdenken, wozu man gerade eine innere Zustimmung gegeben hat. Das Ringen, um sich Gehör zu verschaffen, ist der Motor für den politischen Kampf. Dieser Kampf ist nicht immer die politische Idee, sondern auch eine direkte Reaktion auf äußere Umstände, Ungerechtigkeiten und das Streben nach Glück.

Das Publikum sitzt mit im Geschehen. Die Bürger*innen kämpfen für den Wandel, und die Abgeordneten führen hitzige Debatten. Das Theater wird zum politischen Forum, der Publikumsraum zur Nationalversammlung, in der die leidenschaftliche Debatten über die Gestaltung einer neuen Staatsform geführt werden. Das Stück präsentiert sich mit einer umfangreichen Besetzung, bei der sechzehn Ensemblemitglieder gleichzeitig auf der Bühne stehen. Darüber hinaus spielt jede*r von ihnen noch weitere unterschiedliche Rollen. Oft spielen sie auch vollkommen gegensätzliche Figuren, was ihnen ermöglicht, viele Nuancen in der Inszenierung einfließen zulassen und die eigenen Erfahrungen und das Wissen für eine inhaltliche Auseinandersetzung zum Blühen und Glühen zu bringen.

»Das Wort ›politisch‹ hat, zumindest im Französischen, so viele Bedeutungen, dass keiner mehr richtig weiß, was es eigentlich heißt. Wenn man mir die Frage nach dem Politischen stellt, habe ich den Eindruck, dass man mir eine politische Agenda unterstellt, die meine Kunst nicht hat. Mein Theater schlägt keine Lösungen vor, versucht nicht, bestimmte Ideen voranzubringen. Ich versuche Elemente der Realität einzufangen, die diese Realität in der Komplexität zeigen, wie ich sie empfinde.« Joël Pommerat

»Es gibt auch das Bedürfnis, als Gemeinschaft wieder zusammenzuwachsen, sich um einen großen Entwurf zu versammeln. Und welcher Entwurf könnte größer sein als der der Demokratie? Dieser Impuls, sich zu versammeln, ist ziemlich natürlich in Momenten der Bedrohung. Gleichzeitig zeugt er auch davon, dass sich etwas in uns zurechtrückt und der Politik wieder Sinn verleihen könnte, um den Menschen vom Konzept des Individualismus abzubringen.« Joël Pommerat

Über den Autor

Joël Pommerat, geboren 1963, wurde mit achtzehn Jahren Schauspieler und begann mit dreiundzwanzig Jahren, regelmäßig zu schreiben. 1990 wurde sein erstes Stück am Pariser Theatre Clavel uraufgeführt. Er ist Gründer der Compagnie Louis Brouillard. Sich selbst definiert er dabei als ›Autor der Aufführung‹ (auteur de spectacle) und die Mitglieder seiner Compagnie als Mitautoren.

 

Pommerat beschäftigte sich u.a. mit dem Medium Film und schuf mehrere Kurzfilme sowie ein Hörspiel. Danach wandte er sich wieder dem Theater zu. Von 2007 bis 2010 wurde Pommerat auf Einladung von Peter Brook Artist in Residence am Théâtre des Bouffes du Nord in Paris, wo seine Compagnie bis heute ihre Büros hat.

 

Pommerats Werke wurden u. a. mit dem Grand Prix de littérature dramatique und dem Prix Beaumarchais ausgezeichnet. Für »La Révolution #1 – Wir schaffen das schon« wurde Joël Pommerat gleich dreifach mit dem Prix Molière ausgezeichnet.

 

In Deutschland waren die Produktionen seiner Compagnie Louis Brouillard regelmäßig auf den Festivals Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden und Perspectives in Saarbrücken zu Gast. In Deutschland wird Joël Pommerat seit 2014 vom MERLIN VERLAG vertreten.

 

(Quelle: Merlin Verlag)

Das Nachdenken vergiften

Joël Pommerat und seine Compagnie Louis Brouillard

Von Gerhard Willert

Erschienen in: THEATER DER ZEIT SPEZIAL: FRANKREICH (10/2017)

Assoziationen: AKTEURE FREIE SZENE EUROPA

Im Jahr 1990 gründete Joël Pommerat die Compagnie Louis Brouillard, zu Deutsch »Ludwig Nebel«. Dabei gab er seinen Schauspielern von sich aus das Versprechen, vorerst vierzig Jahre lang mit ihnen zu arbeiten. Er nennt das seinen »kleinen Vertrag«. In den ersten 16 Jahren entstanden, immer ein wenig im Verborgenen, abseits der großen Bühnen, 16 Produktionen. Dann, im Sommer 2006, zeigte das Festival d’Avignon gleich vier seiner Arbeiten. Das war sein Durchbruch. Die Presse schwelgt seither in höchsten Tönen, doch vor allem: sie ist überhaupt da. Das Publikum strömt, wo immer die Truppe in Frankreich spielt. Ein Molière-Theaterpreis für den besten frankofonen Dramatiker und ein Molière für die beste freie Gruppe folgten; 2016 erhielt er noch einmal drei Molières für »Ça ira (1) Fin de Louis« (La Révolution # 1 – Wir schaffen das schon) und einen für »Pinocchio«. Die großen Verlockungen folgten daraufhin auch: Inszenierungsangebote an den angesagten Theatern und Opernhäusern dieser Welt. Pommerat aber sagte alles das ab. Er arbeitet stattdessen unbeirrt weiter mit seinen Leuten. Neun neue Produktionen sind in der Zwischenzeit entstanden.

In Afrika sagt man, eine Bibliothek verbrennt, wenn ein alter Mensch stirbt. Ein bisschen ist das so mit meiner Truppe. Ginge ein Schauspieler weg, dann gingen Jahre der Erkenntnisarbeit verloren. Es gibt ein künstlerisches Kapital, das sich durch jeden Einzelnen bildet. […] In diesem Sinne sind diese Schauspieler ein Kollektiv. Sie sprechen nicht den Text von Joël Pommerat, sie sind partiell dieser Text.

Pommerat erklärt nicht, er zeigt. Pommerat bedient sich der unterschiedlichsten Dramaturgien. Es gibt stringent erzählte Macht- und Familiengeschichten wie »Mit einer Hand«. Es gibt streng soziologisch recherchierte Textkondensate wie »Dieses Kind«. Es gibt im Brecht’schen Sinn des Wortes »Versuche« wie »Die Händler«, wo der Niedergang einer kleinen Industriestadt sinnlich fassbar gemacht wird durch die Konfrontation eines ausschließlich aus dem Off kommenden Textes einer Beteiligten mit ausschließlich stumm gespielten Szenen. Es gibt durch die Jahrhunderte surfende fragmentierte Gebilde wie »Kreise/Visionen«. Es gibt in sich abgeschlossene Szenen kaleidoskopartig auffächernder Konstrukte wie »Die Wiedervereinigung der beiden Koreas«. Es gibt Adaptionen von Märchen wie »Rotkäppchen« oder »Pinocchio«, die verblüffenderweise die Figuren und Situationen gänzlich gegenwärtig zeichnen, ohne dabei die Märchenwelt an die Gegenwart zu verraten. Seit Herbst 2015 gibt es mit »La Révolution # 1 – Wir schaffen das schon« den radikalen und explosiven Ansatz, das historische Material der französischen Revolution ins Heute zu setzen.

Pommerat verdichtet Situationen, die jede/r kennt, ob aus eigener Erfahrung oder durch kulturelle Prägung, scheinbar unaufwändig und also unauffällig bis zum Siedepunkt, an dem sie schlackenlos werden. Er wertet nicht. Er erklärt nicht. Er zeigt. Und wirft uns damit auf uns selbst zurück. Auf unsere je eigenen Erfahrungen, Hoffnungen, Wünsche, Ängste. Dabei kommen uns seine Geschichten immer irritierend bekannt vor. Wodurch sich unsere je eigenen Erfahrungen nicht mehr so eigen anfühlen, wie meist erhofft und oft befürchtet. Wie er das macht? Er zapft unser kulturelles Gedächtnis an. Er schafft Echoräume. Er untersucht die alten Geschichten und setzt sie radikal und trocken dem Heute aus. Réécrire nennt Pommerat diesen Vorgang, zu Deutsch etwa »neu schreiben« mit einem semantischen Hauch von Wieder-Holung. Womit er unser Gefühl der historischen Einzigartigkeit untergräbt. Sein feiner lakonischer Humor verstärkt diese Wirkung.

Pommerat hat zu allem, was ihm auffällt, was ihn beschäftigt, was ihn quält, ausschließlich Fragen, die er über den Probenprozess sinnlich fassbar machen, aber nicht lösen will:

 

Dahingehend denke ich auch, dass es dringender ist, zu zeigen als zu erklären. Dass darin sogar unsere einzige und wesentliche Aufgabe im Theater liegt: zeigen; etwas zeigen; und wie man es zeigt. Was den Text nicht ausschließt, denn auch die Sprache will gezeigt werden. Das Theater dient keinem Zweck, im Gegenteil, für mich muss es das Nachdenken vergiften und versuchen, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen. Dadurch wird es, vielleicht, politisch.

Eine Finsternis, in die alles geht

Bei aller Singularität des Schaffens von Joël Pommerat darf man nicht vergessen, dass es direkte Vorläufer oder, je nach Geschmack, Wegbereiter oder Inspiratoren gibt. Insbesondere ist diesbezüglich Michel Vinaver zu nennen, aber auch Jean-Luc Lagarce. Und als Geistesverwandte wären etwa Martin Crimp und, mit Stücken wie »Vorher/Nachher« oder »Der Goldene Drache«, Roland Schimmelpfennig zu nennen sowie, in seiner Suche nach Synästhesien, durchaus auch Falk Richter.

 

Wir bestehen aus Widersprüchen. Sie nicht sichtbar zu machen, hieße den Blick zu verstellen auf alles, was Schönheit in dieser Welt ausmacht. Aus dieser Überzeugung heraus kommt auch der Name meiner Kompanie, Louis Brouillard: Nebel in Opposition zur »Klarheit«, zum »französischen Geist« mit seinen berühmten Dogmen wie »Was gut gedacht ist, lässt sich auch klar formulieren«.

Letzteres ist eine ironische Attacke auf den sprichwörtlich gewordenen Satz aus dem 1784 von der Berliner Akademie preisgekrönten Essay »Über die Universalität der französischen Sprache« des Comte de Riverol: Was nicht klar ist, ist nicht französisch. Womit ich beim philosophischen Ursprung von Pommerats Aufführungen angelangt bin. Auf diesem philosophischen Grund findet sich, zwischen den jeweiligen Szenen, das unscheinbare Wort Noir, zu Deutsch Schwarz. Es hat nichts mit dem branchenüblichen Black zu tun. Es bezeichnet vielmehr eine Finsternis, aus der alles kommt und in die alles geht. Thomas Bernhard hat davon geträumt. Genau dieses unermessliche Schwarz wirft uns auf uns selbst und unsere Ängste und Träume und Gedanken zurück, die die Rezeption der vorangegangenen wie der folgenden Szene prägen.

Ein hochrationaler Topmanager wird plötzlich abergläubisch. Seine hochrationale ehrgeizige Frau steigt darauf ein. Schwarz. Ein allseits beliebtes, weil allzeit ausbeutbares Mädchen für alles in einem Supermarkt erfindet für sich in der Not ein ultrabrutales Bruderdouble. Schwarz. Eine wunderschöne Meerjungfrau lässt sich, um dem Schönheitsideal ihres Geliebten zu genügen, chirurgisch ihren Schwanz entfernen. Schwarz.

Das jeweilige Verhalten charakterologisch zu begründen, zeigt uns Pommerat, greift zu kurz. Jeder von uns kann sich je nach konkreter Situation so verhalten oder auch anders. Je nach den zumeist komplexen Umständen reagieren wir so oder anders, und öfter, als uns lieb ist, anders als gedacht. Pommerat stößt einen auf diese zunächst unbehagliche Erkenntnis, die ich allerdings befreiend finde, zeigt sie doch, dass wir Möglichkeitswesen sind, die jederzeit nach dahin oder nach dorthin kippen können. Man muss aufmerksam sein, lernt man bei Pommerat. Dabei erklärt er nichts. Er beschreibt nur unfassbar genau. »Erklärungen sind eigentlich Lügen«, sagt der Lacanianer Avi Rybnicki. //

Der Text ist ein Auszug aus: Gerhard Willert: ›Erklärungen sind eigentlich Lügen‹, in: Joël Pommerat, »Die Wiedervereinigung der beiden Koreas«, Merlin Verlag, Gifkendorf 2016.